JESUS HEILT EINE FRAU MIT VERKRÜMMTEM RÜCKEN (Lukas 13)
Die Geschichte
Am Sabbat lehrte Jesus in einer Synagoge. Dort sass eine Frau, die seit achtzehn Jahren krank war, weil sie von einem Dämon geplagt wurde; ihr Rücken war verkrümmt, und sie konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sagte: Frau, du bist von deinem Leiden erlöst. Und er legte ihr die Hände auf. Im gleichen Augenblick richtete sie sich auf und pries Gott. Der Synagogenvorsteher aber war empört darüber, dass Jesus am Sabbat heilte, und sagte zu den Leuten: Sechs Tage sind zum Arbeiten da. Kommt also an diesen Tagen und lasst euch heilen, nicht am Sabbat! Der Herr erwiderte ihm: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? Diese Tochter Abrahams aber, die der Satan schon seit achtzehn Jahren gefesselt hielt, sollte am Sabbat nicht davon befreit werden dürfen? Durch diese Worte wurden alle seine Gegner beschämt; das ganze Volk aber freute sich über all die grossen Taten, die er vollbrachte. (Lukas 13, 10-17 nach der Einheitsübersetzung; Bild oben: Holzschnitt von Sr. M. Sigmunda May*).
Information zu Sr. M. Sigmunda May: https://www.klostersiessen.de/kunst-und-kultur/kuenstlerinnen/kuenstlerinnen-im-portrait-may/
Das Umfeld
Es ist Sabbat, der wöchentliche jüdische Feiertag, an dem jede Arbeit verboten ist. Jesus lehrt in der Synagoge. Dazu ist zu bemerken, dass in der Synagoge Männer und Frauen streng getrennt sind. Wenn Jesus lehrt, steht er wahrscheinlich auf dem Almenor, der Kanzel in der Mitte der Synagoge. Ruft er nun die Frau zu sich, muss diese in den Raum eintreten, der den Männern vorenthalten ist. Das ist damals wie z.T. heute (in orthodoxen Kreisen) in Wirklichkeit kaum denkbar. Wenn es aber so beschrieben steht, wollen wir es als Motiv so stehen lassen.
Der Gegenwartsbezug
Spontan fallen mir drei Aspekte der Geschichte auf, die wir in einen Gegenwartsbezug bringen können:
a) Eine Frau, dringt in eine „Männerdomäne“ ein („Tabubruch“ bringt Heilung)
b) Die Stellung der Frau in der Synagoge bzw. in der Kirche (z.B. in der katholischen)
c) Wie wichtig sind formale Äusserlichkeiten (hier der Sabbat) im Bezug auf einen – im Sinne des Wortes – „not-wendigen“ Liebesdienst (hier die Heilung der Frau)? Es ist die Frage, die Jesus auch an anderer Stelle aufklingen lässt: Ist das Gesetz für den Menschen da oder der Mensch für das Gesetz?
Die Identifikation
Hier bieten sich verschiedene Identifikationsschemata an:
die Frau, Jesus, der Synagogendiener, aber auch die Synagoge (die Kirche), das Leiden der Frau, die Heilung . . . bezogen auf mich.
„Für einen Leser bietet sich am ehesten die dargestellte Person als Ich-Figur an, mit der er sich am leichtesten identifizieren kann, denn diese hat wahrscheinlich eine Affinität zur Konstellation seiner eigenen psychischen Funktionen . . . Es gibt eine Reihe von Evangelientexten, in denen Jesus kaum als Ich-Figur verstanden werden kann, weil er zu deutlich als Archetyp des Selbst erscheint; das sind die Epiphaniegeschichten und die Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen.“ In unserer Geschichte ist eine Identifikation mit dem Menschen Jesus kaum ein Problem.
Archetypische Motive
Krankheit:
Körperliches Kranksein steht allgemein für das nicht ganz, nicht heil sein (Dämon) auf seelischer Ebene, für eine Distanz zum eigenen Selbst. Es ist ein Schatten- oder ein Seelendefekt, der nach Integration strebt. Im Dämon werden die nicht integrierten Seelenanteile personifiziert.
Rücken:
Ein Rücken krümmt sich unter einer schweren Last. Der Rücken als die „hintere Seite“ des Menschen symbolisiert dessen Unbewusstes. Wird sich das Unbewusste seiner „Last“ nicht bewusst, bleibt der Rücken gekrümmt, d.h. das Unbewusste unerlöst.
Heilung:
Heilung im archetypischen Sinn hat immer mit einer Individuation zu tun, mit einem Schritt zum Selbst hin.
Synagoge:
Das griechische Wort „synagoge“ bedeutet „die Versammlung“. Die Synagoge wird hier zum archetypischen Motiv des Menschen als Gemeinschaftswesen. Das griechische Wort „ecclesia“ (= Kirche) hat für Christen eine ähnliche Bedeutung.
Die zentrale Gestalt
Die Geschichte kann aus der Sicht Jesu, des Heilenden, gelesen werden oder aus der Sicht der Frau, die geheilt wird.
Was heisst das und wie geht das vor sich, wenn Jesus Menschen „heilt“? „Heil werden“ hat mit „ganz werden“ zu tun, mit dem ergänzen eines Teils in der Individuation, der noch nicht zum Ausdruck gekommen ist oder auf dem Lebensweg irgendwie „verschüttet“ wurde. „Heilen“ hat aber auch mit „heiligen“ zu tun. Dem Heiligen wird eine besondere Bedeutung beigemessen, die über das Alltägliche, Profane hinausgeht. Das Heilige ist Gegenstand besonderer (innerer) Aufmerksamkeit.
Was erfährt die Frau in ihrem „heil werden“? Welche Leistungen muss sie erbringen, um diesen neuen Zustand in ihrem Leben zu erreichen, der sie wieder „aufrecht stehen und gehen“ lässt? Auch wenn sie von Jesus in die Mitte gerufen wird, braucht es wohl ihrerseits eine grosse innere Überwindung, diesen Schritt auch zu vollziehen.
Amplifikation des Materials
Hier wäre es sicher angebracht, andere Heilungsgeschichten Jesu genauer anzuschauen. Lassen sich aus ihnen Gemeinsamkeiten zur vorliegenden Geschichte ableiten? Interessant dabei ist zu entdecken, dass es sehr oft nicht Jesus selber ist der heilt! Vielmehr weckt er in den Menschen die Kräfte, sich durch ihren Glauben (!) und eine andere Einstellung zum Leben selber zu heilen. Doch auch Jesus ist nicht immer erfolgreich (vergl. Lukas 18, 18ff).
Deutung auf Objekt- und Subjektstufe
Auf der Objektstufe
Eine Frau leidet seit 18 Jahren an einem verkrümmten Rücken. Sie kann nicht aufrecht stehen. Jesus ruft diese Frau in der Synagoge zu sich und heilt sie vor der versammelten Gemeinde. Damit das geschehen kann, muss die Frau aber die „Männerdomäne“ betreten, sozusagen „über ihren eigenen Schatten springen“.
Eigenartigerweise regt sich der Synagogenvorsteher, der wohl stellvertretend für die Gemeinde spricht, nicht darüber auf, dass die Frau den streng abgetrennten Män-nerraum betreten hat (denn das musste sie tun, um zu Jesus zu gelangen), sondern darüber, dass Jesus die Frau an einem Sabbat geheilt hat. Hier wird wiederum in sehr scharfer Form – wie auch in anderen Erzählungen (z.B. Vom Ährenessen der Jünger am Sabbat, Matthäus 12, 1-8) – die Menschlichkeit der Gesetzlichkeit gegenüber und erstere vor die letztere gestellt.
Auf der Subjektstufe
Auf der subjektiven Ebene haben wir hier eine Frau, die mit gekrümmtem Rücken abseits der Gesellschaft in der Synagoge steht. Wahrscheinlich hat ihr „abseits stehen“ auf der Bildebene etwas mit ihrem gekrümmten Rücken zu tun. Wer einen krummen Rücken hat, kann nicht „aufrecht stehen“, kann dem anderen nicht „gerade in die Augen blicken“, sieht die Welt sozusagen „von unten herauf“. Es fehlt ihr an Selbstsicherheit, das Ich ist schwach, sie lebt in ihrem „eigenen Schatten“, die Animuskräfte sind nicht entwickelt und schon gar nicht integriert, das Selbst ist (noch) unerlöst. Die einzige Tat, die Jesus vollbringt um die Frau „aufzurichten“ - zu heilen - ist, dass er sie „ins Licht ihres Bewusstseins“ in die Mitte der Gemeinde holt, sie aus ihrer selbstverschuldeten (?) Isolation befreit.
Auf der kollektiven Ebene ist diese Frau in der Synagoge eine „verkrüppelte“ Anima-Figur des Volkes Israel. Die weibliche Seite der Kollektivseele steht im Abseits und ist dort verkümmert. Jesus holt sie aus ihrer Isolierung und stellt sie vor die versammelte Gemeinde. Dadurch wird sie heil. Aber statt sich zu freuen, fährt die Gemeinde ihren legalistischen Animus-Anspruch aus und verurteilt Jesus für seine Tat. Nachdem Jesus seine Tat gerechtfertigt hat, zeigt die Gemeinde doch ein schlechtes Gewissen. Offenbar merkt sie, wenn auch nur diffus, dass ihr zur „Ganzheit“ etwas fehlt.
Der Weg der Individuation
Die Geschichte zeichnet das Leben der Frau nicht nach. Deshalb wissen wir nicht, was es war, das sie zu einer „Frau mit verkrümmtem Rücken“ gemacht hat. Es ist aber durchaus denkbar, dass sie für viele Frauen Israels steht, die in der patriarchalen Gesellschaft jener Zeit nicht viel zu lachen hatten. Dass die Anima-Kräfte Israels verkümmert sind, zeigt auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10, 30-37), wo es gerade nicht ein Israelit ist, der die entscheidende Liebestat vollbringt, sondern ein (in Israel verhasster) Samaritaner.
Jesus gibt der Frau die Möglichkeit, den integrierenden Schritt ihrer Individuation zu tun, indem er sie in die Mitte der Synagoge – d.h. in die Mitte der (männlichen) Gesellschaft stellt. Sie aber tut den wesentlichen Schritt, indem sie im Glauben an die Autorität Jesu den Schritt wagt. Die Erfahrung, dass dieser Schritt überhaupt möglich ist, lässt sie gesund werden. Sie kann wieder „aufrecht gehen“, den Leuten wieder „gerade in die Augen schauen“.
In theologischer Deutung ist es die Begegnung mit Jesus und der Schritt auf Jesus Christus zu, der der Frau die Heilung bringt. Im Blick auf Jesus kann die Frau ihren gekrümmten Rücken vergessen, ihr „verletztes Ich“ ablegen und dadurch heil werden. In diesem Sinn ist es der Glaube, der die Frau heilt. Die Frau trägt nichts Wesentliches zu ihrer Heilung bei. Hier wird ganz klar die Dimension deutlich, die in der Individuation C.G. Jungs nicht vorkommt: die göttliche Gnade.
Auf der subjektiven Ebene der Frau findet eine Heilung statt. Auf der kollektiven Ebene des Volkes Israel kann diesen Schritt nicht nachvollziehen werden. Diese kollektive Ebene wird wohl weiterhin „Frauen mit verkrümmtem Rücken“ hervorbringen.
Auswertung und Realisierung
Die Auswertung und Realisierung erfolgt wiederum mit den Teilnehmenden. Ist die Auslegung für jede Teilnehmerin/jeden Teilnehmer stimmig? Wo hinkt die Interpretation? Was ist im Laufe der Bibelarbeit bei mir geschehen, welche Prozesse wurden in Gang gebracht, welche Emotionen freigesetzt, welche Erkenntnisse gewonnen? Was kann ich für mich aus dieser Interpretation herausnehmen, was in mein Leben übertragen und wie in meinem konkreten Alltag umsetzen?
Es ist in der Auswertung eine lohnende Aufgabe, auf die unterschiedliche Sicht von „Heilwerden“ in der Psychologie und in der Theologie einzugehen. Was bedeutet vor diesem Hintergrund der Satz: „Jesus hilft den Menschen, sich selber zu heilen!“? Der Druck der Selbstwerdung bzw. der Selbstverwirklichung steht dem vertrauenden Ge-schehenlassen in Gott gegenüber, einer Dimension, die dem modernen Menschen eher fremd ist. Wenn wir erkennen und anerkennen, dass nur Gottes unendliche Weite in die letzte Objektivität führen kann, dass hier die (Tiefen-) Psychologie an ihre Grenze gelangt, dann kann eigentlich nur noch die Konsequenz sein, dass die Wirkung des Therapeuten durch die Wirkung des (Heiligen) Geistes weitergeführt wird. Jesus wäre dann nicht mehr der „Heiler“, sondern der, der die Menschen für den heiligen (und heilenden) Geist und sein Wirken zu öffnen vermag.