Jahwistische Urgeschichte
Die Schöpfungserzählung Gen. 2 (Buch Genesis; 1. Mose)

Die Schöpfungserzählungen liegen in zwei völlig verschiedenen Fassungen vor. Gen. 1 ist die elohistische Fassung mit der Siebentageschöpfung (wenn man die Schöpfung des Ruhetages (des Shabbats), der hier den Höhepunkt der Schöfung bildet (und nicht etwas die Erschaffung des Menschen!). In ihr wird der Gottesname mit "Elohim" (eigentlich ein Plural) wiedergegeben. Die andere Fassung ist die von Gen. 2, in der der Gottesnahme mit "Jahwe" (gemäss JHWH Ex. 3, 14) wiedergegeben wird. Die elohistische Fassung geht mit grosser Wahrscheinlichkeit auf die Zeit des Babylonischen Exils (597 - 539 v. Chr.) zurück, kann aber in ihren Grundzügen auf die Zeit des Untergangs des Nordreiches ( (722 v. Chr.) zurückgehen. Die Datierung der jawistischen Fassung ist umstritten. Allgemein wird angenommen, dass sie älter ist und bis in die Zeit um 950 v. Chr. zurückgeht, es gibt aber auch Forscher, die eine zeitliche Paralleiltät oder zumindest Überschneidung zwischen Jahwist und Elohist sehen.
Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Fassungen erheblich. Sie sind auch kaum zur Deckung zu bringen. Dass der Redaktor des AT keinen Versuch der Angleichung unternommen hat, heisst, das es einen tieferen Sinn haben muss, die beiden Fassungen der Schöpfungserzählung so zu belassen. An uns ist es demnach zu versuchen, den tieferen Sinn der beiden Erzählungen (Gen. 1 könnte auch als Hymnus (Loblied) verstanden werden) zu erfassen. Ich befasse mich hier nur mit der zweiten Fassung.
Assoziationen zum Thema "Urgeschichte"
Sündenfall, Schlange, Paradies, Apfel, Rippe, Versuchung, "Dreck", Adam & Eva, Mann & Frau, Schuld, Herrschaft, Erkenntnis, Arbeit & Schmerzen, Feigenblatt ...
Das Wort "Sünde" kommt in der jahwistischen Urgeschichte nicht vor!
Von einem „Apfel“ ist nirgens die Rede, sondern von den Früchten des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse. Wenn ich von den „Früchten meiner Arbeit“ spreche, denke ich auch nicht zwangsläufig an Birnen!
Sobald ein Werk veröffentlicht ist, ist es nicht mehr das eigene Werk. Jeder betatscht es, kommentiert und interpretiert es nach eigenem Gutdünken. Das geschah auch mit dem "Jahwisten", der so genannt wird, weil der Name des Autors unbekannt ist, er aber für "Gott" das Wort "Jahwe" verwendet. Etwas später, vielleicht auch zeitgleich ist sein Kollege, der - ebenso unbekannt - aus dem gleichen Grund "Elohist" genannt wird. Ein Grundproblem im Umgang mit den Urgeschichten ist ihre Dogmatisierung und Verabsolutierung im Lauf der Jahrhunderte. Immer wieder wurden diese Geschichten als theologische Aussagen über Sünde und Strafe missbraucht, obwohl das gar nicht das Thema des Jahwisten ist. Die Geschichten des Jahwisten sind nicht "Geschichten von einst", sondern "Gleichnisse der Seinswirklichkeit des Menschen und der Schöpfung hier und jetzt". Der des Hebräischen mächtige sieht hinter den Namen Aussagen allgemeinerer Art. Die "Personen" der Urgeschichte sind nicht Personen (im Sinne von ganz bestimmten Individuen), sondern ganz bestimmte "Typen".

Historische Fragestellung:
Was wäre gewesen, wenn das und das anders gekommen wäre, und was bedeutet das für heute?
Antropologische Fragestellung:
Welches Menschen- und Seinsbild wird hier entworfen, und wie stehen wir dazu?

Der Mensch ist ein selbstbezogenes Wesen (Individuum). Das zeigt sich auch auf der sexuellen Ebene. Der Schritt zur Einheit als Mensch (zusammen mit der Frau!) muss erst vollzogen werden. Gut und Böse sind Unterscheidungskriterien einer polar gespaltenen Welt. Streben nach Einheit ist die Bestimmung des Menschen, das hat mit Hochmut nichts zu tun! Will der Mensch "eins" werden, so muss er den "Turm" zu Gott bauen. Viele menschliche Probleme sind nur aus dieser erhöhten "Sicht Gottes" zu lösen. Das Problem ist aber, dass in der Einswerdung das Menschsein nicht auseinanderbrechen darf! Die an sich guten Bestrebungen des Menschen führen immer wieder in die Irre. Der Mensch muss sich klar sein, dass er in seinem Streben nach Einheit mit Gott nicht eins mit Gott ist. Das markiert Gott ganz deutlich in seiner Sprachverwirrung, die er über die Menschen kommen lässt. Die Sünde des Menschen besteht nicht im Versuch, mit Gott eins zu werden, sondern im Missbrauch dieser Möglichkeit für seine eigenen, niederen Zwecke.
Der Mensch hat eine soziale Dimension. Das ist in der Geschichte von Kain und Abel angesprochen. Geschwisternschaft ist die grundlegende soziale Dimension. Die Unterscheidung Hirte/Ackerbauer markiert die verschiedenen Arbeitsbereiche. Mit Noah breitet sich die Menschheit über die ganze Welt aus, der Mensch erobert den Lebensraum. In Gen 6, 1-4 steht ein mythisches Motiv im Hintergrund, das des zeitlosen Lebens, das dem Menschen verwehrt ist. Der Mensch lebt in, nicht über der Zeit. Babel steht am Schluss als Summe aller früheren Erkenntnisse. Der Mensch ist durch seine Sprache ein verstehendes Wesen. Das Zikkurrat steht für eine menschlich-technische Grossleistung, die ohne kommunizierenden Verstand nicht realisierbar gewesen wäre. Die Sprachenvielfalt ist ebenso eine Realität, wie das gegenseitige Sich-nicht-verstehen, selbst dann wenn man die gleiche Sprache spricht. Auch in der Sprache, im Urteil über den anderen ist der Mensch Herr über Leben und Tod, in der aufbauenden Kritik oder in der zerstörerischen Verleumdung. Trotzdem - Gott hat die Sprachen verwirrt, aber nicht die Sprache weggenommen!
Die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, ist ein göttlicher Aspekt im Menschsein, ebenso wie der Wunsch nach "Ganz-sein". Wenn der Mensch aber versucht, sein "Menschsein" zu verlassen, kann er leicht zum "Unmenschen" werden. Er kann sich mit den ihm von Gott verliehenen Fähigkeiten selber zugrunde richten! So hat Kain sein "offen sein" nicht ausgehalten und seine Fähigkeit, über Tod und Leben zu entscheiden, miss
braucht. Damit wird er ein "Wanderer im Niemandsland", das Land Nod, das "Herumirren" wird sein Schicksal. In einer polaren Welt wird auch das, was wir von Gott wahrnehmen, polar, d.h. ambivalent. Das drückt sich aus in der strafenden Konsequenz, mit der Gott agiert, aber auch in seinem Erbarmen und seiner Sorge um den Men-schen, die soweit geht, dass er den ersten Menschen nach dem Sündenfall selber Felle zur Bekleidung macht (Gen 3, 21). Der Mensch hat sich Erkenntnis angeeignet, aber das Leben bleibt bei Gott (Gen 3, 22). Gott schützt den Menschen vor dessen "Unmensch sein". Wo der Mensch sich selber verliert, kommt ihm Gott nahe, tritt er für ihn ein uns schützt ihn mit seinem Zeichen (Gen 4, 15). Und obwohl der Mensch sterblich geworden ist, ist es ihm vergönnt, 120 Jahre (12 x 10 = Symbolzahl der vollendeten Fülle) zu leben. Auch ein begrenztes Leben kann ein erfülltes Leben sein!!

Auch die Sintflut drückt nicht ein spezifisches Ereignis aus, sondern die existentielle Gefährdung des Lebensraumes. Symbolisch steht die Flut aber nicht nur für die Vernichtung, sondern auch für die Reinigung und den fruchtbaren Neubeginn (vergl. Nilschwemme). Es gibt keine Zeit, die nicht ihre Sintflut hätte. Wir können das mythologische Bild ohne weiteres übertragen auf alte und neue Flutkatastrophen, aber auch auf die Abholzung der mediteranen Wälder durch die Römer, wie auf die Vernichtung des Regenwaldes und die globale Umweltzerstörung heute. Trotzdem sind wir in einen Zyklus der Natur eingespannt, der nie vergehen wird! Das ist auch die Verheissung des globalen Noahbundes, der allerdings elohistischen Ursprungs ist.
Die jahwistischen Urgeschichten sind Einzelgeschichten! Sie stehen nur indirekt in einem kausalen Zusammenhang. Es sind Geschichten über den Menschen, so wie Hiob eine Geschichte über Gott ist. Wenn wir sie von der dogmatischen Patina der Zeit befreien, finden wir darin hochphilosophische Reflexionen über den Menschen, ganz sicher keine Bilderbuchgeschichten für Kinder (Problem im Schulunterricht!). Oberflächlich könnte man eine lineare Struktur Böse - Sünde - Strafe - Fluch ausmachen, aber selbst eine problematische Einleitung wie Gen 6, 5ff ist wohl eher in der Tradition der Fluchpsalmen (vergl. auch blaues Blatt) zu sehen und nicht zum Nennwert zu nehmen. Wir müssen vielmehr die Tiefenstruktur dieser Erzählungen herausarbeiten und uns fragen, was hinter der "Vielsprachigkeit", "Böses" etc. tieferes steht.
Werner Keller - 24. 5. 1993