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Einführung - Vorgehen

RELIGION / PHILOSOPHIE > Tiefenpsychologiesche Exegese


Biblische Geschichten psychoanalytisch deuten?

Im Rahmen meiner Diplomarbeit zur Erwachsenenbildung habe ich mich näher mit der Psychoanalyse C.G. Jungs beschäftigt und mit der Frage, ob und inwiefern sich dieser Ansatz auch auf die Interpretation biblischer Geschichten anwenden lässt. Was mich an C. G. Jung fasziniert hat, ist sein Umgang mit Symbolen und Archetypen. Ich nehme nicht für mich in Anspruch die Psychologie Jungs bis in die Tiefe verstanden zu haben. Ich bin auch kein Psychotherapeut. Aber es hat in der Psychologie C. G. Jungs interessante Ansätze, die es mir erlauben, Dinge anders zu sehen als sie auf den ersten Blick erscheinen. Hier liegt der wertvolle Ansatz der tiefenpsychologischen Interpretation, in der Erkenntnis, dass alle Teile ausserhalb von mir letztlich in mir eine Entsprechung haben.

Meine Arbeit beschränkt sich auf ein paar exemplarische Versuche. Da ich ein Jahr später meine Arbeit als Religionslehrer eingestellt habe und wieder in die Volkschule übergetreten bin und andere Dinge vorbereiten musste, habe ich diesen Ansatz nicht weiter verfolgt. Ich bin dann aber in meiner Arbeit als Deutschlehrer auf die psychoanalytische Deutung von Märchen gestossen, was mich auch sehr fasziniert hat. Hierzu gibt es aber so viele gute Bücher, dass ich selber keine Arbeiten dazu geschrieben habe. Die hier dargestellte Methode lässt sich nicht nur zur Interpretation biblischer Geschichten einsetzen, sondern eignet sich auch gut zur Märchenanalyse.

ALLGEMEINES VORGEHEN AM BEISPIEL BIBLISCHER GESCHICHTEN AUS DEM ALTEN UND DEM NEUEN TESTAMENT

1) Auswahl der biblischen Geschichte

Nicht alle Geschichten der Bibel eignen sich in gleicher Weise für eine tiefenpsychologische Bibelarbeit, es bleibt aber eine grosse Anzahl, die sich geradezu anbieten. Wo tiefe Glaubensfragen angesprochen werden, ist sehr subtil vorzugehen. Es ist nicht schlecht, sich persönlich zuerst intuitiv einer Geschichte zu nähern. Sie muss mich primär „ansprechen“, sonst ist die Chance klein, dass ich sie gewinnbringend einsetzen kann. Es gibt viele Geschichten die auf diese Art „ansprechen“ -, nicht immer in einem positiven Sinn. Doch gerade Geschichten, die zuerst einmal „fremd“ sind, um nicht zu sagen, die „abstossen“ können sehr ergiebige Quellen für eine Bibelarbeit sein. Wenn ich selber keinen Zugang zur Geschichte habe, werde ich auch schwerlich eine Bibelarbeit zu dieser Geschichte leiten können.

2) Die biblische Geschichte, ihr Umfeld und der Gegenwartsbezug

Die biblische Geschichte
Zuerst werde ich eine Geschichte so nehmen, wie sie in der Bibel geschrieben ist. Ich versuche, mir die beschriebene Situation zu vergegenwärtigen und Unklarheiten inhaltlicher oder sprachlicher Art zu bereinigen.

Wie eine biblische Geschichte wirkt, hängt oft auch von der Übersetzung ab. Sogenannte „Bibeln im heutigen Deutsch“ haben zwar den Vorteil der leichteren Lesbarkeit, aber den Nachteil einer unpräziseren Übersetzung. Ich ziehe für meine Arbeit die Zürcher Bibel (Zwingli-Bibel) vor. Sie ist zwar schwerer zu lesen, aber näher am Urtext. Vergessen wir nicht, dass gerade das Hebräische eine sehr archaische und konzentrierte Sprache ist (ein Wort hat i. d. R. einen sehr weiten Bedeutungshorizont). Etwas von der „Urtümlichkeit“ der Sprache, von der biblische Geschichten leben, ist durch die Sprache der Zwingli-Bibel erhalten geblieben. Noch „urtümlicher“ wäre die Bibelübersetzung Martin Bubers und Franz Rosenzweigs. Doch entfernt sich diese Übersetzung manchmal so weit vom gängigen deutschen Sprachgebrauch, dass sie sehr schwer zu lesen ist.

Das Umfeld der biblischen Geschichte
Vielleicht erschliesst sich mir die Geschichte schon auf der erzählerischen Ebene. Wenn nicht, muss ich das Umfeld einbeziehen, die Situation in der die Geschichte spielt und gegebenenfalls die Vorgeschichte. Auch Informationen der historisch-kriti¬schen Exegese können Sachverhalte klären und neue Bezüge schaffen. Ich halte mich aber vorerst mit zu umfangreichen Informationen zurück (nur so viel wie wirklich nötig ist, um die Geschichte zu verstehen) und lasse die Geschichte mit ihrem unmittelbaren Eindruck, den sie hinterlässt, wirken.

Gegenwartsbezüge, Identifikation, Weiterdichten archetypischer Motive
Schon hier kann ich Gegenwartsbezüge machen. Habe ich eine ähnliche Situation schon erlebt? Ich versuche, einen subjektiven Zugang zur Geschichte zu finden. Welche Bilder aus meinem realen Leben steigen bei dieser Geschichte in mir auf? Ich kann diese Assoziationen direkt benennen oder schriftlich fixieren. Ich kann mich mit einerbiblischen Figur identifizieren, mich in ihre Situation versetzen. Wie ist die Stimmung, die in mir aufkommt? Welche Ängste und Hoffnungen durchlebe ich in diesem Moment? Ich kann das (bis jetzt noch unbewusste) „archetypische Motiv weiterverfolgen“, indem ich einfach die Geschichte „frei aus dem Bauch heraus“ weiterdichte. Eine Analyse der archetypischen Motive (und damit die Bewusstmachung der archetypischen Motive) erfolgt erst in einem weiteren Schritt. Andere Methoden des Weiterdichtens sind z.B. eine „Traumreise“, ein Rollengespräch oder ein Rollenspiel, ein Bild, eine Pantomime oder (wenn das jemand kann) ein Tanz oder ein kurzes Musikstück . . .

An diesem Punkt offenbart sich oft schon archetypisches Erleben, d.h. das Erleben allgemein menschlicher Grunderfahrungen, ohne dass wir – bis jetzt – eine tiefenpsychologische Analyse gemacht hätten. Aus diesen Grunderfahrungen kann ich meine erkenntnisleitenden Fragen formulieren.

3) Suche nach archetypischen Motiven

Archetypische Motive
Der Kontext der Geschichte ist für die tiefenpsychologische Bibelarbeit wichtiger als das einzelne Symbol. Aber ich sollte mir trotzdem über den Bedeutungsumfang der einzelnen Symbole im Klaren sein. Zuerst einmal werde ich in der Geschichte alles herausschreiben, was mir als mögliches Symbol entgegenkommt. Ein mögliches Symbol oder archetypisches Motiv ist alles, was ich mit einer weitergehenden subjektiven oder kollektiven Bedeutung belegen kann. Primäres Kriterium ist wiederum nicht Vollständigkeit, sondern die Frage: „Was spricht mich besonders an?“. Oft haben in der Bibel auch Namen eine Bedeutung.

Die Deutung der archetypischen Motive
Ich kann nun versuchen, den einzelnen Symbolen eine (intuitive) Bedeutung zu geben. Was bedeuten die einzelnen archetypischen Motive (in ihrem Zusammenhang)? Sollte die Interpretation Schwierigkeiten machen oder stecken bleiben, kann ich mir in einem Symbol-Lexikon vielleicht neue Inspiration holen. Nie aber sollten Symbolinterpretationen unbesehen und eins zu eins aus fremden Quellen für die eigene Arbeit verwendet werden. Wo hinter dem Symbol keine persönliche Erfahrung (Betroffenheit) steht, wo es nicht unmittelbar anspricht, ist es hohl und damit bedeutungslos.

Die zentrale Gestalt
In der Frage nach der/den zentralen Gestalt(en) bzw. dem/den zentralen Motiv(en) kündet sich die Frage an, wo wir in unserem Leben die Prioritäten setzen, was uns wichtig ist, woran wir „unser Herz hängen“. Oft kann ein Wechsel der Perspektive angezeigt sein (Paradigmenwechsel), der ein Problem in einem ganz anderen (ganzheitlicheren) Licht erscheinen lässt: Identifiziere ich mich eher mit der einen oder eher mit der anderen Gestalt? Wird eine Person oder eine Situation gar zu einem zentralen Motiv für mein Leben? Wenn ich mich mit einer Gestalt identifiziere: Wie würde wohl die andere Gestalt dieselbe Geschichte erzählen?

Die Amplifikation des Materials
In einem weiteren Schritt kann ich versuchen, das Material zu amplifizieren, d.h. mich zu fragen: Wo habe ich schon ähnliche Motive getroffen? In welchem Zusammenhang standen sie dort? Dadurch wird das Material ausgeweitet, neue Bezüge werden herstellt und der Blick für das Motiv geweitet.

4) Die Deutung auf der Objekt- und Subjektstufe

Ich werde nun versuchen, die Motive bzw. Symbole auf der Objekt- und der Subjektstufe (vorläufig) zu deuten. Es scheint mir wichtig, dass diese Deutung (Interpretation) zunächst jeder für sich selber macht. Die subjektive Bedeutung ist wichtiger als eine übernommene Meinung, die nicht der eigenen Erfahrung entspricht.

Auf der Objektstufe
Hier nehmen wir die Geschichte "objektiv" wahr. Worum geht es, was wird erzählt? Was sind die bekannten Umstände und Fakten? Wie ist die Situation dargestellt? Welche Vorgänge, welche Konsequenzen (Folgen) werden geschildert?

Auf der Subjektstufe
Auf der Subjektstufe ist jede in der Geschichte vorkommende Person, jeder Ort, jedes Ding ein psychischer Teilaspekt der Gesamtpsyche des Subjektes, der zentralen Gestalt, von der erzählt wird. Die konkreten Taten (Fakten) werden auch symbolisch interpretiert und damit auf eine andere Ebene gehoben. Äussere Aspekte werden zu inneren Aspekten der Seele. Flucht, Kampf, Verletzung, Grenzen... in der äusseren Welt finden ihre Entsprechung in der inneren Welt und werden zu existenziellen Metaphern. Der äussere Kampf wird zu einem inneren Kampf, der äussere Sieg zu einem inneren Sieg, der dem Leben des Subjekts eine neue Richtung gibt. Was vorher als Schatten das Dasein negativ beeinflusst hat, kann als erlöster und integrierter Teil zu einem wertvollen Begleiter des weiteren Lebens werden.

Die Subjektstufe hat immer eine subjektive und eine kollektive Ebene. Was den Einzelnen betrifft, betrifft immer auch die ganze Menschheit. Wir leben nicht nur mit einem individuellen Bewusstsein, sondern auch mit einem kollektiven!

5) Der Weg der Individuation

Letztlich geht es in vielen Erzählungen der Bibel, aber auch in Märchen um Entwicklungswege, Wege der Individuation, der "Selbstwerdung". Solche Wege führen meist über mehrere Stufen. Es sind "Erlösungswege", bei denen auf jeder Stufe eine Lektion gelernt werden muss, in der wir uns vor überkommenen Verhaltensmustern trennen. Wir werden aufgefordert, was und hindert, unseren "Schatten", zu integrieren, den "Feind" in uns zum Freund machen, nicht die Welt zu bekämpfen, sondern sie uns "zum Freund" zu mache. Dabei helfen uns äussere Geschehnisse, die oft als schmerzliche Geschehnisse wahrgenommen werden.

Ich kann sowohl die Interpretation auf der Subjektstufe wie den Individuationsweg auf meine persönliche Lebenssituation beziehen. Wo meine Selbstfindung ins Spiel kommt, kann ich dem in der Interpretation gesagten eine daseinsanalytische Betrachtung anreihen. Damit schaffe ich meinen subjektiven Bezug zum Motiv: Wie ist z. B. mein Lebensweg bis hierher verlaufen? Welche Erfahrungen habe ich mit „Übergängen, Flucht, Kampf und Verletzung, Segen . . .“ gemacht? Was haben diese Situationen bei mir bewirkt? Wo war ich gezwungen, gegen meine momentane Überzeugung zu handeln (über meinen „Schatten“ zu springen), und welche Erfahrungen habe ich dabei gemacht? Wo haben sich mir neue Wege eröffnet, und was ist dieser Erfahrung vorausgegangen? . . .

Finden solche Reflexionen in der Erwachsenenbildung in Gruppen statt, sind das sehr delikate Geschehen, die mit sehr viel Sensibilität angegangen werden müssen. Es kann nicht darum gehen, Leute „auszustellen“ und schon gar nicht „blosszustellen“. Schmerzliche Erinnerungen an „misslungene“ Lebenswege können hochkommen usw. . Neben der Sensibilität der Leiterin/des Leiters und dem gegenseitigen Respekt der Teilnehmenden kommt hier ganz klar die Chairman/ Chairwomen-Regel zum Tragen.

6) Auswertung und Realisierung

Wenn wir in unserer Interpretation schon so weit gediehen sind, können wir die Vollständigkeitsregel anwenden, die insofern von Bedeutung ist, als jetzt die Stimmigkeit der bisherigen Interpretation überprüft wird. Bis zu einem gewissen Grad ist das eine „Evaluation“ des bisher Erarbeiteten. Gerade in einer Gruppe wird die Vielfältigkeit der möglichen Interpretationen, vielleicht auch die Ambivalenz der Symbole sichtbar. Vielleicht vermag eine Interpretation in unserem spezifischen Fall nicht zu befriedigen. Vielleicht stimmt das Bild mit der Erfahrungswirklichkeit nicht oder nicht vollständig überein. Ziel kann nicht die Harmonisierung der verschiedenen Ansichten sein! Es ist wichtig, die Symbole und ihre vielfältigen Bedeutungen und Interpretationsmöglichkeiten in ihrer Polyvalenz zu belassen.

Am Schluss steht die Realisierungsregel. Welche konkreten Einsichten haben die gemachten Betrachtungen für mein Leben gebracht? Wie kann ich sie gegebenenfalls in meinem Alltag umsetzen? Hier gilt ebenfalls, was ich im vorangegangenen Kapitel im Abschnitt über Selbstfindung und daseinsanalytische Betrachtung gesagt habe: Jede/jeder ist ihre eigene Chairwomen/sein eigener Chairman.

Wichtige Begriffe aus der Jung'schen Psychologie kurz erklärt

Anima / Animus:
Das sind die weiblichen bzw. männlichen Seelenanteile im jeweils anderen Geschlecht. Sind diese Seelenanteile nicht integriert, d.h. in der eigenen Person eingebettet, verhindern sie ein ganzheitliches Sein. Im ungünstigen Fall können sie ein Eigenleben entwicklen, das der eigenen Seele schaden kann.

Archetypus / Archetypen:
Sie sind Seelenbilder, die tief in unserem Unbewussten verwurzelt sind und von dort z.B. in Träumen oder Mythen ins Bewusstsein aufsteigen und ihre Kräfte entwickeln können. Archetypen sind Teil des Kollektiven Unbewussten, sie gehören zur tiefsten Schicht des Menschseins.

Schatten:
Es sind die die Teile im Unbewussten, oft dunklen Seiten unserer Seele, die aus irgend einem Grund den Weg ins Bewusstsein nicht finden (Verdrängung). Dabei wäre es wichtig sicher geade dieser Schatten bewusst zu werden, d. h. sie in Schritten der Selbsterkenntnis ins Bewusstsein zu integrieren, damit sie nicht unerkannt eine destruktive Eigendynamik entwickeln können. Dann können Schattenanteile auf andere projiziert und dort bekämpft werden, statt dass man sie in sich selber angeht.

Integration:
Integration ist der Weg der Selbstwerdung und Selbsterkenntnis, in dem wir Dinge, die von uns abgespalten erscheinen, in uns aufnehmen und in unser Seelenmuster einbauen. In der Integration erfüllt sich die Lebensaufgabe eines Menschen mit dem Ziel, ein "ganzheitlicher" Mensch zu werden, der mit sich selber und der Welt im Reinen ist.

Individuation:
In der Integration geschieht die Arbeit der Individuation. Es geht hier um einen psychischen Reife- und Wandlungsprozesses. Individuation ist ein Schritt näher zu seinem wahren Selbst, zur Ganzheitlichkeit einer Persönlichkeit. In der Individuation wächst das Individuum auch aus den Kollektivnormen. Dieses Herauswachsen aus den Kollektivnormen braucht nicht in einem Konflikt mit diesen Normen zu enden. Sie werden aber als das gesehen, was sie sind: nicht Teile des eigenen Lebens, sondern Vorgaben für ein erfolgreiches kollektives Zusammenleben.

Projektion:
Projektion ist das Gegenteil von Integration. Nicht integrierte unbewusste seelische Inhalte werden nach aussen projiziert und führen dort ein Eigenleben, das die persönliche Ganzheitlichkeit gefährdet. "Was siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten, des Balkens in deinem eigenen Auge aber wirst du nicht gewahr!" Die Projektion verhindert, das Problem im eigenen Innern anzugehen und kann deshalb krankhafte Züge annehmen.

Objekt- und Subjektstufe:
Wenn ich von bestimmten Personen träume, können genau die Personen gemeint sein, die ich im Traum sehe (Objektstufe). Gleichzeitig stellen sie aber auch Aspekte meines Selbst dar (Subjektstufe). Wieso träume ich gerade von diesen Personen, ist hier die Frage, und was haben sie mit mir zu tun?






 
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