Ensisheim (Elsass, Frankreich) und sein Meteorit - Homepage Werner Keller 2016

Suchen
Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Ensisheim (Elsass, Frankreich) und sein Meteorit




ENSISHEIM UND SEIN METEORIT

Werner Keller ©
"Gardien et Chevalier de la Météorite d'Ensisheim"

Das 7'000-Seelen-StädtchenEnsisheim (elsässisch: Anze), 15 km nördlich von Mulhouse im Departement Haut-Rhin im Elsass würde kaum jemand kennen, hätte es nicht eine ganz einzigartige Geschichte. Die Geschichte von Ensisheim beginnt schon in der Keltenzeit. In der Zeit der Karolinger wird Ensisheim erstmals urkundlich (768) unter dem Namen "Engisehaim" erwähnt. Seine "hohe Zeit" hat es aber im Spätmittelalter und in der Renaissance!

Berühmt wird das Städchen, damals "Hauptstadt" (Verwaltungssitz) der habsburgischen Vorlande, 1492 mit dem Fall eines Meteoriten. Es ist weniger der Fall selber, als die historischen Begleiterscheinungen, die der Fall auslöst, die in ganz Europa eine eigenartige Resonanz finden. Den Gründen werden wir im folgenden Artikel versuchen auf die Spur zu kommen.

1492: Wir befinden uns in der Renaissance, an der Schwelle des Mittelalters zur Neuzeit. Die Wissenschaft erfährt eine Wiedergeburt… Man studiert die 200 Jahre alten Berichte des Marco Polo (1254-1324) und die griechischen Autoren der Antike... Die Osmanen haben 1452 Byzanz erobert. Sie beanspruchen das Monopol auf den gewinnträchtigen Gewürzhandel im fernen Osten. Byzantinische Gelehrte fliehen vor den Osmanen zunächst nach Italien und bringen ihr Wissen mit. Ihr geografisches Wissen findet – zwar noch nicht fehlerfrei, aber immerhin – im Globus des Martin Behaim  (1459 – 1507) einen Niederschlag. Ziel des Abendlandes - vorab Portugals und Spaniens in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts - ist ein direkter Weg nach Indien und die eigene Kontrolle über den Gewürzhandel. Der Globus scheint dieses Ziel in greifbare Nähe zu rücken.

Im Januar des Jahres 1492 endet die fast 800-jährige muslimische Herrschaft über die  iberische Halbinsel. Emir Muhammed XII. übergibt Granada an die katholischen Könige Ferdinand (II.) und Isabella (I.) von Kastilien und Aragon. Die Reconquista, die Rückeroberung des christlichen Spanien von den Mauren, ist damit beendet.

Für den Seefahrer Christoph Kolumbus erfüllt sich ein Traum. Auf Grund der "Kapitulation von Santa Fe", einem Vertrag zwischen ihm und den spanischen Königen, lösen Ferdinand und Isabella ein Versprechen ein und gewähren ihm drei Schiffe. Zudem sichern sie ihm die von ihm geforderten Rechte auf seine allfälligen Entdeckungen zu.

Kolumbus reist mit dem neuen Wissen seiner Zeit und er wird eine neue Welt entdecken, ohne allerdings je zu wissen, was er wirklich entdeckt hat. Zeitlebens wird er überzeugt sein, einen Westzugang nach Asien gefunden zu haben.

Spätere Generationen werden versuchen, einen Zusammenhang zwischen Kolumbus‘ Entdeckung der Neuen Welt und dem Fall des Meteoriten von Ensisheim herzustellen.

Aber laut Logbuch sichtet Kolumbus nach seiner Überfahrt über den Atlantik am 12. Oktober 3 Uhr morgens Land, der Meteorit fällt am 7. November kurz vor Mittag, also gut vier Wochen später. Was also  macht die Besonderheit dieses Ensisheim-Meteoriten aus? Steine sind vor ihm vom Himmel gefallen und Steine sind nach ihm vom Himmel gefallen. Meteoritenfälle sind zwar  nicht alltäglich, aber die Menschen haben sich damals in der Regel wenig Gedanken darüber gemacht.

Das Besondere am Fall des Meteoriten von Ensisheim ist seine Rezeption, die Art und Weise, wie sein Fall - unter den Vorzeichen seiner Zeit - von den Menschen aufgenommen worden ist. Mit der Geschichte des Meteoriten von Ensisheim, tauchen illustre Namen auf, wie:

- Maximilian I., Deutscher König und ab 1508 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation
- Sebastian Brant, bedeutender Humanist und Rektor der Universität Basel
- Hartmann Schedel, bedeutender Chronist und Historiker aus Nürnberg (Verfasser der "Weltchronik", 1493)
- Diebold Schilling, bedeutender Chronist aus Luzern (Verfasser der "Luzerner Chronik“, 1513)
- Albrecht Dürer, genialer Druckgrafiker und Maler aus Nürnberg

und viele andere. Sie alle spielen - ob direkt oder indirekt - eine Rolle in dieser Geschichte, die ich im Folgenden erzählen möchte.

Wichtig für mich als St. Galler Bürger ist Maximilian I., weil er der Sohn Kaiser Friedrichs III. ist, des Mannes, der dem Bären im Wappen der Stadt St. Gallen 1475 das goldene Halsband beschert hat, zum Dank für die St. Galler Waffenhilfe gegen den burgundischen Herzog Karl den Kühnen.

„Bei Gandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut“. Praktisch jedes Schweizer Kind kennt diese gelungene Zusammenfassung der Burgunderkriege, die praktisch so alt ist wie die Burgunderkriege selbst. Am 5. Januar 1477 schlägt Karl der Kühne seine letzte Schlacht gegen die „Niedere Vereinigung“, eine Koalition aus Eidgenossen, Habsburgern, Elsässern und Lothringern. Die Niederlage der Burgunder ist verheerend und Karl der Kühne findet in der Schlacht bei Nancy den Tod.

3 ½ Monate nach dem Tod Karls des Kühnen, im August 1477, heiratet Maximilian die Tochter des verstorbenen Herzogs, Maria von Burgund. Die inzwischen 20-jährige Maria ist die alleinige Erbin des glanzvollen Burgunderreiches. Dieser Heirat sind schon vier Jahre zuvor, 1473 in Trier, „Sondierungsgespräche“ vorausgegangen. Karl der Kühne hat sich durch diese damals abgesegnete Heirat den Zugang zur Königswürde und zur Kaiserkrone im Deutschen Reich erhofft. Nun ist sein Traum auf ewig ausgeträumt. Zunächst aber holt sich Habsburg jetzt erst einmal die Besitzungen in der Vogtei Ensisheim, im Sundgau und im Breisgau zurück, die Herzog Sigismund in seiner chronischen Geldnot 1469 an Karl den Kühnen verpfändet hat.

Im August 1477 findet in Gent die Hochzeitsfeier des jungen Paares statt. Sie entstammen unterschiedlichen Kulturen und sprechen unterschiedliche Sprachen, trotzdem haben sie sich sehr geliebt und das - seitens Maximilians - weit über den frühen Tod Marias hinaus.

Aber noch jemand erhebt Anspruch auf das Burgundererbe: Der französische König Ludwig XI. betrachtet die Gebiete Burgunds immer noch als Lehen der französischen Krone und will sie wieder zurückhaben. Doch Ludwig ist alt, sein Ende naht. Maximilian wird dem französischen Thronfolger, Karl VIII., noch vor dessen Thronbesteigung seine und Marias 3-jährige Tochter, Margarete von Österreich, zur Frau geben (1483). Das entschärft die Burgunderfrage – allerdings nur vorübergehend. Für Margarete bahnt sich ein schweres Los an!

1482 verliert Maximilian - nach nur 5-jähriger Ehe - seine geliebte Gattin bei einem tragischen Reitunfall. Die Dynastie muss aber weiterleben. Maximilian schliesst 9 Jahre nach dem Tod Marias, 1491 einen neuen Ehevertrag mit der Tochter des Herzogs der Bretagne, der elfjährigen Anne. Er hofft, seinen Einfluss in diesem Gebiet festigen zu können. Diese Einflussnahme Maximilians in der Bretagne ist dem französischen König dann doch zu viel. Karl VIII.  besetzt Nantes und zwingt - unterstützt von Papst Innozenz VIII. - die mittlerweile 14-jährige Anne de Bretagne zur Auflösung der noch nicht vollzogenen, nur auf dem Papier bestehenden Ehe und zur Bindung der Bretagne an Frankreich. Karl VIII. will Anne heiraten, obwohl er schon seit acht Jahren mit Margarete verlobt ist.

Dieser Affront und diese Schmach gehen an der inzwischen 11-jährigen Margarete nicht spurlos vorbei. Betrachtet man allerdings, was für ein liederlicher Typ Karl VIII. war, kann man im Nachhinein schon fast von Glück reden, dass diese Ehe nie vollzogen worden ist. Margarete wird später noch eine wichtige Rolle spielen in den nicht einfachen Beziehungen zwischen dem Haus Habsburg und den burgundischen Erblanden.

Anne ist 1491 gezwungen, Karl VIII. auf Schloss Langeais an der Loire zu heiraten, mit der Auflage, im Falle eines fehlenden Thronfolgers auch seinen Nachfolger zu heiraten. Maximilian, der gerade in Niederösterreich gegen die Ungarn kämpft, hat keine Handhabe, das zu unterbinden. Der Friede von Pressburg 1491 verschafft dem Habsburger etwas Luft. Der Einfluss seines Hauses in Ungarn ist für die weitere Zukunft gesichert. Jetzt sind die königlichen Truppen wieder frei für andere Unternehmungen. Neben dem Affront, der Maximilian immerhin seine Braut und die Bretagne gekostet hat, wird die Tochter Maximilians als Geisel in Frankreich zurückgehalten. Maximilian beschliesst ein Jahr darauf (1492) einen Feldzug gegen den treulosen französischen Ex-Schwiegersohn.

Nebenbei: Die Heirat mit Anne bringt Karl kein Glück. Ein Fluch scheint auf der Ehe zu lasten. Alle drei Kinder, die Anne ihm gebiert, sterben noch vor dem 3. Lebensjahr. Im April 1498 - 7 Jahre nach der Heirat - wird er nach einem läppischen Unfall sterben und Anne als Witwe zurücklassen. Eine späte Genugtuung für Maximilian, die ihm aber weder Anne noch die Bretagne zurückbringt.

Zwischen 1492 und 1494 befindet sich ein junger Malergeselle auf seiner Gesellenfahrt. Für die frischgebackenen Handwerkergesellen ist es üblich, auf einer Wanderfahrt weitere Erfahrungen für das künftige Berufsleben zu sammeln. Dieser Geselle hat eine Goldschmiedelehre bei seinem Vater abgebrochen und dann bei dem Maler und Holzschneider Michael Wohlgemut in Nürnberg eine Lehre gemacht. Es ist der 21-jährige Albrecht Dürer (das Selbstbildnis links fällt etwa in diese Zeit).

Anstatt sich den berühmten Zentren der Kunstmalerei in Italien oder Holland zuzuwenden, zieht es Dürer nach Basel, das 1492 (es tritt erst 1499 bzw. 1501 der Eidgenossenschaft bei) freie Reichsstadt und ein Zentrum des Humanismus am Oberrhein ist. Der junge Maler interessiert sich in diesem Moment weniger für die Malerei als für die ganz neue Form der Text-Illustration durch Holzschnitte, die in der Zeit der Renaissance einen kometenhaften Aufstieg erlebt. Dürer arbeitet an der Illustration von Sebastian Brants „Narrenschiff“ mit, einer spätmittelalterlichen Moralsatire, die zum erfolgreichsten Buch der Zeit vor der Reformation wird.

Im Herbst 1492 verlässt Dürer - mindestens vorübergehend - Basel mit dem Ziel Colmar oder Strassburg. Dann zieht es ihn für mehr als ein Jahr nach Italien. Zurück in Nürnberg liefert er 1494/95 ein Auftragswerk - auf einer Holztafel gemalt - aus, „Die Busse des Heiligen Hieronymus“. Auf der Rückseite dieses Gemäldes findet sich eine äusserst realistische Darstellung eines fallenden Meteoriten. Das ist kein Beweis, legt aber den Schluss nahe, dass Dürer ein Augenzeuge des Meteoritenfalls von Ensisheim gewesen ist. Es ist bekannt, dass Dürer ein waches Auge hatte und Dinge visuell schnell und präzise erfasste. Dieses kleine Bild wird erst 1960 in der Privatsammlung von Sir Edmund Bacon entdeckt und ist der Kunstwelt bis dato unbekannt gewesen.

Die Erfahrung des Meteoritenfalls muss Dürer durch sein ganzes Leben begleitet haben, denn auch in der „Melancholia“, einem späteren  Werk Dürers von 1514 (er stirbt 1528) findet sich im Hintergrund ein dramatisch explodierender Meteor. Es ist kaum anzunehmen, dass Dürer nach Ensisheim noch öfters Zeuge solcher Feuerbälle gewesen ist.

Zurück zum 7. November 1492: Gegen Mittag fällt ein Meteorit in ein Weizenfeld zwischen Ensisheim und Battenheim. Augenzeuge des Falls ist zunächst ein kleiner Hirtenjunge, der seine Schafe in der Nähe weidet. Er muss mächtig erschrocken sein, als sich der dreieckige, gut 130 kg schwere Stein praktisch „vor seinen Füssen“ einen Meter tief in den Boden bohrt (Bild links aus der Weltchronik des Hartmann Schedel, 1493; Text: Sebastian Brant, 1492).

"By will des dritten Friderich / Geboren herr von Osterrich /
Regt har in diss sin eigen landt / Der stein der hie ligt an der wandt.
Als man zalt vierzehenhündert Jar. / Uff sant Florentzen tag ist war
Nünzig und zwei umb mittentag / Geschach ein grüsam donnerschlag /
Drij zentner schwer fiel dieser stein / Hie in dem feld vor Ensissheim."

Alsbald kommen die Leute aus der Stadt, graben den Stein aus und laden ihn auf einen Ochsenwagen. Sie beginnen Stücke vom  Himmelstein als Glücksbringer abzuschlagen, so dass der Landvogt das erst einmal unterbinden muss. Er bringt den Stein in der Kirche in Sicherheit. Leute kommen von weit her und erzählen sich wundersame Dinge über ihn. Und die Gelehrten sind ziemlich ratlos, worum es sich handeln könnte. Aber sie fassen ihn schliesslich als ein göttliches Zeichen auf.

Der Aufmarsch der Truppen des deutschen Königs geschieht am 26. November 1492 in Ensisheim, also 19 Tage nachdem der Donnerstein gefallen ist. Natürlich erfährt Maximilian von diesem wundersamen Ereignis und lässt den Stein aufs Schloss bringen. Der König ist schwer beeindruckt von dem Felsbrocken und studierte ihn mehrere Tage lang um mehr über seine Herkunft und Bedeutung zu erfahren. Maximilian kommt zum Schluss, dass der Stein göttlichen Ursprungs sein müsse und daher als gutes Omen aufzufassen sei. Er lässt sich zwei Stücke des Glücksbringers sichern, eines für sich und eines für seinen Tiroler Mitregenten Erzherzog Sigismund von Österreich, der allerdings trotz dieses Glücksbringers vier Jahre später verstirbt.

Der Rest des Meteoriten wird auf Geheiss Maximilians in der Kirche von Ensisheim im Chor angekettet, damit sich niemand mehr an ihm vergreifen kann. Vielleicht will man auch verhindern, dass er irgendwelchen Schaden anrichten kann, man weiss ja nie! Er wird dort bleiben bis zur Französischen Revolution!

Der Knall des fallenden Feuerballs wird bis Basel und die Innerschweiz gehört. Wir finden seine Erwähnung in der Luzernerchronik von Diebold Schilling (1513) mitsamt einer Abbildung, wobei aber die beiden Bauern auf dem Feld dem Ereignis kaum die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken scheinen, was wiederum nahe legt, dass Diebold Schilling wenig beeindruckt und somit kein Augenzeuge des Ereignisses war.

Der Fall des Meteoriten findet vor allem bei den Humanisten in Basel  grosse Resonanz. Zwei kommentieren den Fall: Einer ist Johannes Heynlin auch Johannes de Lapide, Karthäusermönch, berühmter Prediger und Buchdrucker, Gründer der ersten Druckerei in Paris. Ausserdem ist er Rektor der Sorbonne in Paris und Mitbegründer der Universität Tübingen.  Seine Kommentare sind aber leider  verloren gegangen. Der andere ist Sebastian Brant, ein grosser Humanist, Jurist und Rektor der Universität Basel. Brant greift das Thema des Meteoritenfalls sofort auf und münzt es politisch um, indem er in Flugblättern König Maximilian auffordert, das Zeichen des Himmels anzunehmen und gegen die Franzosen zu marschieren. Seine Flugblätter, die in mehreren Auflagen erscheinen und bis heute erhalten sind, haben wohl zur Hauptsache dazu beigetragen, dass der Meteorit von Ensisheim einen solchen Bekanntheitsgrad erlangt hat.

TEXT BRANT:

Ich fůr dich recht o Adler milt. / Erlich sint wapen in dim schilt
Brüch dich noch eren gen dim findt / An dem all truw und ere ist blindt
Schlag redlich und mit froüden dran / Trib umb das radt Maximilian
In dim gevell das glück jetzt stat / Ach sūm dich nit / küm nit zů spat
Nit sorg den unfal uss diss Jar / Nit vorcht din findt als umb ein har
Sig / seld und heyl von Osterich / Bürgundisch hertz von dir nit wich
Romisch ere und tütscher nacion / An dir o hǒchster künig stan
Nym war der stein ist dir gesant / Dich mant gott in dim eigen lant
Das dü dich stellen solt zů wer / O küning milt fůr uss din her
Cling harnesch und der büchsen werck / Trúmet herschǒl / französisch berck
Oůch mach den grossen hochmut zam / Rett schirm din ere und gutten nam.

Bestimme dein Recht, o gütiger Adler / Wahrhaft sind die Waffen in deinem Schild / Wehre dich ehrenhaft gegen deinen Feind, / Der weder Treue noch Ehre kennt / Schlage ihn redlich und mit Freuden / Drehe das (Schicksals-)Rad, Maximilian. / In deiner Gunst steht nun das Glück / Zögere nicht, komm nicht zu spät / Sorge dich nicht wegen eines Unglücks dieses Jahr / Fürchte dich nicht im Geringsten vor deinem Feind / Sieg, Glück und Heil von Österreich. / Das burgundische Herz weiche nicht von dir / Römische Ehre und deutsche Zugehörigkeit / stehen an dir, oh grosser König. / Nimm wahr, der Stein wurde dir gesandt. / Dich mahnt Gott in deinem eigenen Land, / Dass du dich zur Wehr setzen sollst. / Oh, gütiger König, entfessle dein Heer / Lass Harnische und Büchsen ertönen / Auf dass die Trompeten erschallen in den französischen Bergen / Zäme auch den grossen Hochmut / Rette deine Ehre und deinen guten Namen.


Was mag Brant dazu veranlasst haben, seinen König so vehement zum Krieg mit Frankreich zu drängen? Ich spekuliere: Die Achse Basel - Colmar - Strassburg ist die zentrale Achse des oberrheinisch-elsässischen Humanismus. Die Renaissance der antiken Schriften hat ein neues Menschenbild geschaffen. Dieses Menschenbild wurzelt in der freien geistigen Entwicklung des Menschen und nicht mehr in der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Es ist der Beginn jener intellektuell bürgerlichen Strömung, die 300 Jahre später in die Französischen Revolution münden wird. Von Natur aus sind die Humanisten weltoffene und progressive Menschen. Geistige Freiheit ist für sie eine Grundvoraussetzung für die Entfaltung des Menschen. Wie steht es mit dieser geistigen Freiheit in Frankreich und im Deutschen Reich?

Das Deutsche Reich hat eine lockere Struktur von mehr als 300 Einzelfürstentümern. Diese Fürstentümer achten eifersüchtig darauf, dass die Nachbarn und vor allem der König nicht zu stark werden. Ein solches Reich ist zwar politisch verwundbar, bietet aber unterschiedlichen Gesinnungen weiten Raum. Im zentralistischen Frankreich muss der König seine Macht mit niemandem teilen, nicht einmal mit dem Adel. In der sich anbahnenden Reformation wird sich zeigen: Selbst ein Luther findet in Deutschland einen sicheren Platz, während die Hugenotten in Frankreich brutal unterdrückt werden. Calvin ist gezwungen, in die Schweiz, nach Genf zu fliehen. Ein Absolutismus, wie er sich in Frankreich entwickelt hat, ist im Deutschen Reich alleine schon auf Grund der Reichsstruktur nicht denkbar.

Der französische König macht keinen Hehl daraus, dass er das burgundische Erbe weiter für sich beansprucht. Auch das Elsass, in unmittelbarer Nähe zu den burgundischen Kernlanden und westlich des Rheins, liegt durchaus im Blickfeld der französischen Krone. Im Reich sind die grossen Städte Basel, Colmar und Strassburg freie Reichsstädte mit erheblichen Privilegien. Ensisheim besitzt zwischen 1584 und 1634 das Münzrecht (Talerschlagen) und ist nach Strassburg die wichtigste Münze des Elsass. So etwas gäbe es unter französischer Herrschaft kaum mehr. Deshalb ist für Brant klar, dass es besser für die Stadt Basel und den Humanismus ist, unter habsburgischer Herrschaft im Reich zu bleiben.

Basel wird sich eine weitere Option eröffnen und sich 1501 der Schweizer Eidgenossenschaft anschliessen. Die Eidgenossenschaft stellt sich 1499 in den „Schwabenkriegen“ gegen die Reichsreformen Maximilians. Die siegreichen Schlachten der Schweizer und die Unmöglichkeit, die Reichsacht gegen die Eidgenossen durchzusetzen, leiten im Frieden von Basel die Ablösung der Eidgenossenschaft vom Reich ein. Diese faktische Unabhängigkeit wird nach dem 30-jährigen Krieg in Westfälischen Frieden 1648 nochmals bestätigt werden und die Unabhängigkeit vom Reich endgültig besiegeln. Damit wird die Eidgenossenschaft 1648 (bis 1848) zu einem eigenständigen demokratischen Staatenbund, dem ersten im Europa der Neuzeit! Das habsburgische Elsass fällt aber im Westfälischen Frieden 1648 an Frankreich.

Den Basler Chroniken (VII/181) zufolge besucht der bei Einsiedeln geborene Philippus Theophrastus Aureolus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus nach einer kurzen Lehrtätigkeit in Basel 1527/28 den Meteoriten von Ensisheim. Paracelsus ist ein hervorragender Mediziner mit umfassenden Kenntnissen in Alchemie, Astrologie, Mystik, Theologie und Philosophie. Er ist somit ein geistiger Wanderer zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit. Als Denker wurzelt er noch tief im Mittelalter, als Arzt ist er seiner Zeit wohl um Jahrhunderte voraus.

Beim einfachen Mann findet er Anklang. Aber seine streitbaren Auftritte im akademischen Umfeld schaffen ihm viele einflussreiche Feinde. Solche Auseinandersetzungen sind 1525 an den Universitäten Freiburg im Breisgau und Strassburg nachgewiesen. Die Vorlesungen in Basel hält Paracelsus - entgegen der damaligen Gepflogenheit - in deutscher Sprache, nicht in Latein. Er will, dass seine Vorlesungen auch für Nichtakademiker verständlich sind, „die Wahrheit müsse nur deutsch gelehrt werden“. In Fachkreisen provozieren seine heftigen Kritiken Anfeindungen gegen ihn bis hin zu offen Drohungen gegen Leib und Leben. Vor einem drohenden aussichtslosen Gerichtsverfahren flieht er im Februar 1528 ins Elsass. In diese Zeit fällt auch sein Besuch des Meteoriten. Offenbar hat er auch eine erste chemische Analyse am Meteoriten vorgenommen.

Bis ins späte 16. Jahrhundert bleibt die Rezeption des Meteoriten von Ensisheim ungebrochen und findet Eingang in die wichtigsten Chroniken, von denen als Beispiel hier nur zwei weitere erwähnt werden sollen: eine Wiener Handschrift aus dem Jahr 1517/18 und die Basler Chronik des Christian Wurstisen aus dem Jahr 1580.

Der 30-jährige Krieg ist eine schwere Zeit für Ensisheim. Siebenmal wird die Stadt geplündert und stirbt fast aus. Sie wird aus den deutschen Gebieten rund um den Oberrhein und auch von Basel aus wieder besiedelt, aber im Westfälischen Frieden 1648 verlieren das Elsass und Lothringen ihre Zugehörigkeit zum Reich und gehen - wie schon erwähnt - an Frankreich. König Ludwig XIV. lockt mit Vergünstigungen für Leute, die bereit sind, das Elsass neu zu besiedeln. Trotzdem lässt das Wiederaufleben der Stadt Ensisheim bis in die 60er-Jahre des 17. Jahrhunderts auf sich warten. 1663 beginnt man mit der Reparatur der Kirche. 1665 gibt es erst 25 neue Häuser. Die Königsburg, welche im Krieg zerstört worden ist, dient als Steinbruch. Zum alten Glanz wird Ensisheim nie mehr zurückfinden.

Nach den weltbewegenden Ereignissen am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit führt der Meteorit von Ensisheim ein relativ geruhsames Leben, angekettet in der Kirche von Ensisheim. Immer wieder kommen neugierige Leute, um das Kuriosum zu bestaunen. Unter ihnen ist auch der Dichterfürst Johann Wolfang von Goethe, der als Student in Strassburg den Meteoriten 1770/71 gesehen hat und in seinem autobiographischen Werk „Dichtung und Wahrheit“ in Band 11 vermerkt:  „In Ensisheim sahen wir den ungeheuren Aerolithen in der Kirche aufgehangen und spotteten, der Zweifelsucht jener Zeit gemäss, über die Leichtgläubigkeit der Menschen, nicht vorahnend, dass dergleichen luftgeborene Wesen, wo nicht auf unseren eigenen Acker herabfallen, doch wenigstens in unseren Kabinetten verwahrt werden.“

Mit seiner Skepsis „Luftsteinen“ (Aerolithen) gegenüber ist Goethe in seiner Zeit nicht allein. Kein seriöser Wissenschaftler in der Zeit der Aufklärung (Ende 18. Jahrhundert) hätte etwas darauf verwettet, dass diese Steine tatsächlich „vom Himmel“ fallen. Drei französische Chemiker untersuchen 1772 - also ein Jahr nach dem Besuch Goethes in Ensisheim - einen Himmelsstein, der am 13. September 1768 in Lucé (Frankreich) gefallen ist. Sie kommen zum Schluss, es müsse sich um einen irdischen Stein handeln, der vom Blitz getroffen worden sei.

Wir wissen, dass der ältere Goethe mehrere Stücke des „Donnersteins“ in seiner Mineraliensammlung gehabt hat. Sie stammen wohl aus der Sammlung Johann Friedrich Blumenbachs, Professor für Medizin und Naturwissenschaft in Göttingen. Mit ihm dürfte Goethe 1801 ein offensichtlich fruchtbares Gespräch über den Meteoritenregen von Benares im Jahre 1798 geführt haben. Blumenbach hat wohl dem Dichterfürst daraufhin einige Stücke seiner Ensisheim-Meteoriten vermacht.

Der erste Mensch, der sich ernsthaft und in der richtigen Richtung Gedanken über Himmelssteine gemacht hat, ist Ernst Florens Friedrich Chladni (1756 - 1827), der eigentlich eher bekannt geworden ist durch seine Studien zur Akustik. Die Idee, es könnte sich bei Feuerbällen um Körper handeln, die aus dem Weltall durch die Atmosphäre fallen, hat erstmals der Göttinger Physikprofessor Georg. C. Lichtenberg (1742 - 1799) geäussert. Das veranlasst Chladni, Augenzeugenberichte genauer unter die Lupe zu nehmen, unter anderen den von Simon Pallas (1694–1770) und dem Meteoriten von Krasnojarsk (gefallen in Sibirien, Russland 1749). 1794 veröffentlicht Chladni sein wegweisendes Büchlein mit dem nicht sehr eingängigen Titel: „ Über den Ursprung der von Pallas gefundenen und anderer ähnlicher Eisenmassen und über einige damit in Verbindung stehende Naturerscheinungen“. Auch wenn er weitgehend auf dem richtigen Weg ist, wird er noch weitere neun Jahre darauf warten müssen, bis seine Erkenntnisse anerkannte Theorie werden.

Preussen gliedert 1871, nach dem Deutsch-Französischen Krieg, das Elsass und damit auch Ensisheim in das neue Deutsche Kaiserreich (Zweites Reich) ein.  Nun wird bis zum Ende des 1. Weltkrieges (Friede von Versailles, 1919) im Elsass wieder offiziell Deutsch gesprochen. Danach wird es wieder Frankreich zugeschlagen werden und Französisch wird verbindlich zur einzigen Amts- und Schulsprache werden. Trotzdem haben sich viele - vor allem ältere - Leute gerade im Alltag bis heute den alemannischen Dialekt erhalten. Diese Doppelsprachigkeit macht einen besonderen Reiz des Elsass aus.

Während der Französischen Revolution ist es für den Meteoriten von Ensisheim wieder aus mit der Ruhe. Im Jahr 3 der Revolution (1794/95; Direktorium) wird der Stein von den Revolutionstruppen beschlagnahmt und nach Colmar überführt, wo er 10 Jahre lang bleibt. Wir haben kein Bild des Meteoriten, wie er in der Kirche von Ensisheim gehangen hat, aber ein gewissenhafter Kommissar der Revolution (J. J. Krapff) genannt „Casimir“ fertigt vor dem Abtransport eine Zeichnung der Kirchenwand an mit den offenen Klammern, an denen der Meteorit befestigt gewesen ist, und eine Zeichnung des Steins selber. So haben wir wenigstens eine Vorstellung, wie das einst ausgesehen haben muss.

In Colmar fristet der Stein ein eher klägliches und wenig beachtetes Dasein zwischen eingelagerten Kunstgegenständen des örtlichen Museums. Mit dem Aufkommen der Enzyklopädie von Diderot und d‘Alembert wächst aber das Interesse der Wissenschaft an solchen kuriosen Exponaten wieder. So sind die Jahre 1800 - 1803 vor allem Jahre chemischer Analysen. Die erste Untersuchung durch Charles Barthold, Chemieprofessor an der École Centrale de l’Haut Rhin, bringt ein eher ernüchterndes Ergebnis. Der Grund für diese Ernüchterung liegt aber nicht im Stein selber, sondern in der ungeeigneten Untersuchungsmethode Bartholds. Das Resultat seiner Arbeit rechtfertigt das grosszügig abgeschlagene Stück des Meteoriten jedenfalls nicht.

Da sind die Engländer schon etwas weiter. Der junge englische Chemiker Edward C. Howard (1774 - 1816) untersucht alle verfügbaren Steine, die in der Zeit nachweislich vom Himmel gefallen sind. Nach und nach kommen die spezifischen Eigenheiten von Meteoriten ans Tageslicht. Er findet Metallkörner, Sulfatkörner, eigenartige Kügelchen und Matrixmaterial. Er analysiert die Komponenten alle separat. Howard zeigt, warum die Gesamtanalyse von Barthold keine aussagekräftigen Resultate geben konnte.

Meteoritensteine unterscheiden sich von irdischen Steinen nicht primär durch ihre chemische Zusammensetzung als Ganzes, sondern durch den Grad ihrer Differenzierung durch thermische Metamorphose. Mit anderen Worten: Vom Himmel kommt nichts, was es auf der Erde nicht auch gäbe,  es kommt aber in anderer Form, weil Meteoriten die Aufschmelzprozesse der irdischen Gesteine i. d. R. nicht durchgemacht haben. Glücklicherweise sind alle Steinmeteoriten, die Howard zur Verfügung gehabt hat, ordinäre Chondriten. Sonst hätte die Geschichte auch anders ausgehen können. (Es gibt nämlich auch Meteoritengestein, das sich auf petrologischer Ebene weit weniger von irdischem Gestein unterscheidet, nämlich Achondrite, Mond- und Marsmeteoriten!)

Angeregt durch die Resultate Howards wird auch im Elsass der Wunsch laut, den Meteoriten von Ensisheim genauer zu untersuchen. In der Bibliothèque Municipal in Colmar ist uns ein Briefwechsel erhalten (1802/03). Absender ist der Marquis Étienne De Drée, ein angesehenes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. De Drée fordert grössere Stücke des Meteoriten -, möglichst mit Schmelzkruste. Zudem verlangt er nach näheren Erläuterungen zu den Fallumständen. Diesem Ansinnen wird vom Präfekten des Oberelsass (Haut-Rhin) stattgegeben. Im Herbst 1803 liegen die Resultate vor: Sie bestätigen: Der Meteorit passt gut in die Analyseresultate der anderen untersuchten Himmelssteine: 56% Silikate, 12% Magnesium, 1,4% Kalk (Kalziumkarbonat), 30% Eisenoxid, 2,4 % Nickeloxid und 3,4% Schwefel.

Am 23. April 1803 findet der berühmte Meteoritenregen von L’Aigle statt. Zu Händen der Akademie Française dokumentiert der renommierte Astronom und Physiker Jean-Baptiste Biot diesen Fall minuziös. Nun gibt es auch in der Fachwelt keinen Zweifel mehr, dass die Himmelsteine tatsächlich aus dem Himmel fallen. Sie sind jetzt als „Ausserirdische“ akzeptiert. Allerdings hält man sie noch lange für von Mondvulkanen auf die Erde geschleuderte Steine, eine Idee, die sich z. T. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hält. Trotzdem: Der Paradigmenwechsel (Wandel in der Anschauung) ist radikal und vollständig. Praktisch über Nacht zieht niemand mehr Chladnis Theorie in Zweifel.

Im Jahr 13 der Revolution (1804), nach 10 Jahren Abwesenheit, kehrt der Meteorit in die Stadt Ensisheim zurück. Zuerst wird allerdings ein gut 10 kg schweres Stück für das 1793 gegründete Naturwissenschaftliche Museum in Paris abschlagen. Das passiert in der Regierungszeit Napoleons I., im Jahr seiner Krönung zum Kaiser. Von den ursprünglich 130 kg bleiben noch knapp 55 übrig. Aber der Stein ist wieder in seiner Heimat!

Viele Stücke, die in der Colmarer Zeit aus dem Meteoriten herausgeschlagen worden sind, finden im 19. Jahrhundert ihren Weg in die Privatsammlungen und Museen überall in der Welt. Ein Stück Ensisheim dient 1807 als Referenzstück bei der Analyse des ersten in den Vereinigten Staaten beobachteten Meteoritenfalls. Der spektakuläre Meteoritenregen geht am Morgen des 14. Dezember über Weston, Connecticut nieder. Er ist in seiner Erscheinung mit dem Fall von Tscheljabinsk 2013 vergleichbar. So schliesst sich der Kreis wieder. Der Meteorit, der vier Wochen nach der Entdeckung der Neuen Welt auf die Erde gefallen ist, dient der Neuen Welt, um den ersten in der Neuen Welt beobachteten Meteoritenfall zu verifizieren.

Nach der Veröffentlichung seines wegweisenden Buches 1794 über Meteoriten beginnt Chladni mit der systematischen Sammlung von Himmelsteinen. 1820 weist seine Sammlung 33 Exponate auf und ist hinter der Wiener Sammlung mit damals 36 Exponaten die grösste Meteoritensammlung der Welt.

1819 veröffentlichte er ein über 400 Seiten umfassendes Kompendium (Lehrbuch/Nachschlagewerk) „Über Feuer-Meteore“. Chladni selber hat ein Stück Ensisheim von mehr als einem Pfund aus der Zeit von Colmar in seinem Besitz (etwas, wovon ich bei einem Marktwert von 600 $/g nicht einmal träumen kann). Bei einem Besuch in Colmar 1810 erfährt er von der Rückführung des Steines nach Ensisheim und stattet ihm in der Kirche einen Besuch ab. Dabei schätzt er die damaligen Ausmasse des Steines, die in etwa den heutigen entsprechen, auch wenn er sich im Gewicht um gut 20 Pfund verschätzt.

Nach seiner gut zehnjähriger Irrfahrt wird der Meteorit Ensiheim an seinen angestammten Platz in der Kirche zurückgebracht und dort an der Mauer im Chor befestigt.

Das erneute Anbringen des Meteoriten im Chor der Kirche erweist sich als nicht so gute Idee. Am 6. November 1854 stürzt der Turm mit Teilen des Chors unter lautem Getöse ein. Zehn Jahre Abwesenheit des Glücksbringers waren dann wohl doch zu viel. Die Kirche wird 1857 im neugotischen Stil wiedererrichtet. Aber die Bürger von Ensisheim haben das Vertrauen in ihren Himmelsstein verloren. Zwar hat der ihnen im Lauf der Geschichte zumindest eine bestimmte Bekanntheit beschert, aber jetzt kommt er nicht mehr in die Kirche zurück, sondern wird erst einmal in der Schule, dann in der Bürgermeisterei im heutigen Palais de la Régence (Bild am Anfang des Artikels) zwischengelagert.

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kehrt das Elsass - auch das haben wir schon erwähnt- wieder in das inzwischen neue Deutsche Reich (das zweite, unter preussischer Herrschaft) zurück. Die Vorgeschichte zum Zweiten Deutschen Reich: 1804 schwingt sich Napoleon I. zum Kaiser auf, 1806 dankt der deutsche Kaiser Franz I. von Habsburg ab. Zwei Kaiser wären dann doch zu viel. Das ist das Ende des Ersten Reiches, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das mehr als 1‘000 Jahre existiert hat.

Der Donnerstein von Ensisheim taucht 1881 in einem Feuilleton der Elsässisch-Lothringischen Zeitung wieder auf. Die Ausgabe vom 11. Mai 1881 beschreibt, wie der Stein den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit am Frühlingstreffen der Geologischen Gesellschaft des Oberrheins bildet.

Mit Erlaubnis des Bürgermeisters von Ensisheim wird der Stein nach Gebweiler gebracht. Da man der Ansicht ist, der Schmutz und Staub von Jahrhunderten mache sich nicht so gut, verabreicht man ihm ein warmes Seifenbad und schrubbt ihn gründlich sauber. Nun wird sichtbar, dass es sich um einen brekzierten Chondriten mit Olivinkörnern, metallischem Nickeleisen und „Magnetitchromit“ handelt… Bei gutem Elsässer Wein klingt der Abend mit einem Gedicht auf Kaiser Maximilians wissenschaftsorientierten Geist aus. Das Gedicht schildert aber wohl eher die Sicht des 19. als die des 15. Jahrhunderts! Durch die Überlieferung von Prof. Knop aus Karlsruhe wissen wir, dass der Meteorit aus dem Regierungsgebäude (der Régence) zu dieser Feier abgeholt worden ist. Dieser eindrucksvolle Renaissancebau aus dem Jahr 1536 steht im Zentrum von Ensisheim und ist eines der wenigen Gebäude, die den 30-jährigen Krieg überlebt haben. Hier findet auch die jährliche Meteoritenbörse statt, von der ich am Schluss noch erzählen werde.

Als klar wird, dass der Meteorit in der Régence bleiben wird, beschliesst die Regierung 1905, ihn in einem würdigen barocken Holzkastens mit Vitrine zu platzieren. Auf dem barocken  Zwickel (um 1870 angefertigt) wird in einem holprigen Vers das Ereignis des Meteoritenfalls wiedergegeben.

Tausend vierhundert neunzig zwey hört man allhier ein gross Geschrey
Dass zunächst draussen vor der Stadt den siebenten Wintermonath
Ein großer Stein bey hellem Tag gefallen mit einem Donnerschlag
An Gewicht dritthalb Centner schwer von Eisenfarb bringt man ihn her
Mit stattlicher Prozession sehr viel schlug man mit Gewalt davon.

Wahrlich kein Gedicht, das grosse Gefühle aufkommen lässt! Aber das ist wohl kaum der Grund, warum der Meteorit über Jahre nur noch auf Anfrage besichtigt werden kann.

1908 kommt aus dem Nachlass von Jules Verne, der 1905 in Amiens verstorben ist, der Roman heraus „Die Jagd nach dem Meteor“ („La Chasse au Météor“). 1901 hat ihn Verne geschrieben. Es geht um die irrwitzige Jagd nach einem Meteoriten aus purem Gold, die fast zu einem Weltkrieg führt. Betrachtet man den Roman als Science-Fiction, so ist er sicher mehr Fiction als Science. Aber es wird angenommen, dass sich Jules Verne vom Meteoriten von Ensisheim zu diesem Roman hat inspirieren lassen.

Auch Ensisheim bleibt von den folgenden Kriegen nicht verschont. Schon im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 kommt es im oberen Elsass - und im Ersten Weltkrieg 1914-1918 erneut - zu Bombenangriffen. 1918 besetzen die Franzosen das Elsass und fordern es als Reparation für den Angriff Deutschlands auf Frankreich. Mit der Niederlage Deutschlands endet auch das Zweite Deutsche Reich, das „Deutsche Kaiserreich“ unter preussischer Herrschaft. Der Schrecken dieses bis dato mörderischsten aller Kriege kann nicht verhindern, dass ihm ein 2. Weltkrieg folgen wird. 1940 kommen die Deutschen unter Hitler wieder zurück und das Elsass wird Teil des Dritten Reiches. Gegen Ende des 2. Weltkrieges gerät Ensisheim ins Kreuzfeuer der deutschen und alliierten Truppen, kommt aber glimpflich davon. Der Donnerstein überlebt die Wirren dieser Zeit unbeschadet.

1957 beginnt mit Sputnik I., dem ersten künstlichen Satelliten, das Weltraumzeitalter. Das gibt dem Interesse an der Materie aus dem Weltraum weltweit einen neuen Schub. Der Meteorit von Ensisheim hält noch immer den Rekord als ältester bezeugter Fall der Geschichte, von dem noch Material vorhanden ist.

1979 entdeckt der japanischer Wissenschaftler Dr. Sadao Murayama (Nationalmuseum der Naturwissenschaften, Tokyo) einen über Jahrhunderte in Vergessenheit geratenen Meteoriten und erweckt ihn zu neuem Leben, indem er ihn und die Schatulle, in der er aufbewahrt wird, eingehend untersucht. Mittels der Radiokarbonmethode an der Schatulle kann innerhalb der Fehlergrenze das Falldatum 19. Mai 861 (nach neuer Zeitrechnung) bestätigt werden, das auch auf der Schatulle eingraviert ist.

Im September 1980 werden die Untersuchungsergebnisse am Meeting der Meteoritical Society in San Diego veröffentlicht. Der Meteorit ist  über 1‘000 Jahre lang im Shinto-Tempel Suga Jinja in Nogata aufbewahrt worden. Dort hat der Stein an besagtem Datum das Dach des Heiligtums durchschlagen. Nogata avanciert zum ältesten bezeugten Fall der Welt (von dem noch Material vorhanden ist). Der Ensisheim-Meteorit muss sein Primat abgeben und sich neu mit dem Titel: ältester bezeugter Fall Europas und zweitältester der Welt (von dem noch Material vorhanden ist) Vorlieb nehmen. Er nimmt es gelassen. Als kleiner Trost bleibt ihm vielleicht: Der älteste bezeugte Meteorit der Welt hat nicht halb so viel Geschichte geschrieben wie der zweitälteste.

1967 realisiert sich ein Traum der Menschen mit der ersten Mondlandung. Inzwischen ist man sich auch einig, dass die meisten Krater auf dem Mond nicht vulkanischen, sondern meteoritischen Ursprungs sind.

1960 hat Eugen Shoemaker neben anderen den Ries-Krater in Süddeutschland eindeutig als Meteoriteneinschlagkrater identifiziert. Da der Mond mit Kratern übersät ist, beginnt man vermehrt nach Kratern auf der Erde zu suchen. Neben den eigentlichen Meteoriten rücken nun auch Impaktstrukturen (Meteoriten-Einschlagkrater) ins Blickfeld der Meteoritenforscher.

In den frühen 70er-Jahren besuchen die Astronauten des Apollo Mondprogramms den rund 15 Millionen Jahre alten Meteoritenkrater im Nördlinger Ries in Süddeutschland. Sie absolvieren an diesem Krater (Ø 22 km) ein „geologisches Training“. „Am Objekt“ sollen sie Näheres über Meteoritenkrater lernen und so ihr Gespür für ihre künftigen Untersuchungen von Kratern auf dem Mond schulen.

Einer dieser Astronauten, Charles Duke, Pilot der Landefähre von Apollo 16, besucht in diesem Zusammenhang  den Donnerstein von Ensisheim. Er ist einer der prominenten Besucher des Steins in der neueren Zeit. Er wird von seiner Mondmission die 162 g-Impaktbrekzie mitbringen, die heute im Riesmuseum in Nördlingen ausgestellt ist.

1984 wird die Bruderschaft der Meteoritenwärter, die „Confrèrie Saint Georges des Gardiens de la Météorite d’Énsisheim“ gegründet. Ihr Ziel ist es, sich in Zukunft um das ausserordentliche Kulturgut zu kümmern, das der Meteorit von Ensisheim zwischenzeitlich darstellt und rund um diesen Meteoriten das  Wissen um Meteoriten zu verbreiten und zu erweitern. Der Grossmeister und Initiator dieses originellen Vereins ist Jean-Marie Blosser. (Das Bild links ist 2013 anlässlich der Inthronisation der neuen Ehrenmitglieder entstanden. Meine Wenigkeit steht links aussen neben dem Grossmeister. Meine Aufnahme in die Bruderschaft geschah auf Grund meiner Arbeiten zum Meteorit von Ensisheim.)

Die Bruderschaft, der auch Schwestern angehören, begleitet den Stein bei jedem offiziellen Anlass, so auch bei einer Ausstellung in Strassburg 1984 und bei den Halley-Giotto- Festlichkeiten 1986 in der Schweiz.

Die Bruderschaft ruft ein regionales Museum in Ensisheim ins Leben, das heute in der Régence Wirklichkeit ist. 1989 wird die Bruderschaft ein eingeschriebener Verein in Verbindung mit der Stadt Ensisheim und der Historischen Gesellschaft des Oberelsass und bemüht sich mit Erfolg, das kulturelle Leben in und um Ensisheim aufrecht zu erhalten. Jahr für Jahr werden neue Ehrenmitglieder ernannt. Meist sind es Leute, die sich in irgendeiner besonderen Weise um Meteoriten verdient gemacht haben. Ehrenmitglieder können später Vollmitglieder des Grand Conseil werden.

Wie gesagt tragen die Meteoritenwärter von Ensisheim einen grossen Teil des kulturellen Lebens in und um Ensisheim. Dazu gehört die alljährliche Meteoritenbörse im Palais de la Régence. Sie ist die einzige Mineralienbörse in Europa, bei der es ausschliesslich um Meteoriten und Impaktgesteine geht. Im Jahr 1960 veranlasst die Bruderschaft eine offizielle Wägung des (Rest-)Meteoriten. Er bringt nun verbriefte 53 kg 831 g auf die Waage.

An der „Bourse Internationale d’Objet d’Origine extraterrestre“ treffen sich alljährlich neben Wissenschaftlern, die den Anlass mit interessanten Vorträgen bereichern, vor allem Meteoritenhändler. Regelmässig aus der Schweiz vertreten ist Peter Marmet und Marc Jost, aus Deutschland Siegfried Haberer mit seiner Partnerin Karin Schneider, mein Freund Hanno Strufe… Und das Schöne: Die jährlichen Treffen führen dazu, dass man sich durchaus kennen lernt und mit der Zeit sogar Freundschaften unter Gleichgesinnten knüpfen kann. Und man bleibt punkto Meteoriten am Puls der Zeit.

Wenn es etwas wie einen Meteoritenpapst gibt, dann ist das Alain Carion, der sein Geschäft in Paris hat und schon fast zum Inventar der Meteoritenbörse gehört. Am 8. Oktober 2011 schlägt im Haus von Martine Commette nahe Paris einer der neueren Meteoriten ein. Der Meteorit Draveil ist 2012 an der Meteoritenbörse das Gesprächsthema Nummer Eins. 2013 sorgt ein anderer Meteorit an der Meteoritenbörse in Ensisheim für Aufsehen. Am 15. Februar 2013 fällt in Russland ein Feuerball mit lautem Getöse. Fensterscheiben zerspringen und es gibt über 1‘200 Verletzte. Dank der Autokameras, die viele Russen als Schutz vor korrupten Polizisten an ihrem Auto montiert haben, wird dieser Feuerball zu dem am besten dokumentierten Meteor der Geschichte. Lange bleiben die Funde aus. Aber gegen Sommer kommen die ersten Bruchstücke des Meteoriten Tscheljabinsk auf den Markt. Die Russen bringen sie in Ensisheim gerade schachtelweise. Klar, dass wir uns die Gelegenheit nicht entgehen lassen und auch Ludovic Ferrière, Cokurator der Meteoritensammlung des Naturhistorischen Museums in Wien, nicht. So hat mein kleiner 17,6-Gramm-Tscheljabinsk wenigstens für kurze Zeit neben dem 387-Gramm-Tscheljabinsk gelegen, den Ludovic Ferrière für die Meteoritensammlung in Wien gekauft hat. Ich besitze also so etwas wie eine „Kontaktreliquie“!

Wer noch nie einen Meteoriten gesehen hat, kommt in Ensisheim voll auf die Rechnung. Wer einen Meteoriten kaufen möchte, sollte aber schon eine Ahnung haben, was er will. Gewöhnliche Stein- oder Eisenmeteoriten aus Nordwestafrika sind schon relativ günstig zu haben. Das mittlere Preissegment liegt bei 10 - 20 Euro pro Gramm. Schöne und bekannte Stücke erreichen aber bald Summen, bei denen zumindest ich passen muss.

Der Traum meiner schlaflosen Meteoritensammler-Nächte: Eine Scheibe des NWA-5000, eines Mondmeteoriten, von Greg Hupé aus den Vereinigten Staaten.  Die Scheibe wird 2015 für 1'250'000 Dollar zum Kauf angeboten. Ein Schnäppchen, denn die Mondmeteoriten gehören zum teuersten Material, das man kaufen kann. Dieses Prachtstück hätte mir auch gefallen, leider fehlen mir noch einige Dollar für den Kauf.

Im November 2013 geht der 53,83 kg schwere Meteorit Ensisheim in seiner barocken Vitrine erneut auf Reisen, begleitet von einer Delegation der Meteoritenwärter von Ensisheim. Der Grossmeister Jean-Marie Blosser und Prof. Zelmir Gabelica begleiten das wertvolle Stück (auf dem Bild ist zudem Dr. Ludovic Ferrière, der Cokurator der Meteoritensammlung in Wien zu sehen). Ludovic Ferrière hat mich im Vorfeld um Informationen zum Meteoriten für Pressemitteilungen gebeten. Die habe ich ihm selbstverständlich geliefet. Zwischen dem 15. und 18. November 2013 ist er für vier Tage im Naturhistorischen Museum in Wien zu bewundern gewesen, eine geschichtsträchtige Reise! Der einst älteste bezeugte Meteorit der Welt (von dem noch Material vorhanden ist) ist Gast in der 2012 komplett renovierten, ältesten Meteoritensammlung der Welt!

Mit dieser Impression beende ich meinen Artikel über den Meteoriten von Ensisheim und seine Wirkung in der Geschichte. Jedes Jahr am dritten Juni-Wochenende findet die Meteoritenbörse statt. Seit Jahren gehört dieser Termin zu meinen festen Terminen im Jahreskalender. 2014 war die 15. Meteoritenbörse und damit ein Jubiläum! Gleichzeitig wurde „30 Jahre Bruderschaft Sankt Georg der Meteoritenwärter von Ensisheim“ gefeiert. Trotz momentaner Krisen hoffe ich, dass die Börse und die Bruderschaft als kulturelles Erbe von Ensisheim weiterbestehen werden. Und ich möchte alle, die sich irgenwie für Meteoriten interessieren, ganz herzlich einladen, Ensisheim und seine Meteoritenbörse einmal zu besuchen!


Vorläufig letztes Kapitel dieser Geschichte

Als der Grossmeister Jean-Marie Blosser aus gesundheitlichen Gründen beschloss, sein Amt 2014 niederzulegten, fiel auch der Kern der Bruderschaft der Gardiens de la Météorite d'Ensisheim auseinander. Versuche, die näheren Gründe zu erfahren, liefen ins Leere. Als 2015 endgültig klar wurde, dass die Bruderschaft der Meteoritenwärter Geschichte ist, hat mich das sehr geschmerzt. Diese Bruderschaft ist mir irgendwie zu einer zweiten Heimat im Elsass geworden. Prof. Zelimir Gabelica hat 2015 nochmals eine Meteoritenbörse "im alten Stil" organisiert. Seit 2016 geht es in einer "abgespeckten" Variante mit den "Freunden des Meteoriten von Ensisheim" weiter. Wer in diesen Zirkel aufgenommen wird, darf sich "Chevalier de la Météorite d'Ensisheim" nennen. Diese Ehre wurde mir 2017 zuteil, so dass ich jetzt neben "Gardien" (Wächter) auch "Chevalier" (Ritter) bin. Der Meteorit von 1492 bleibt natürlich weiterhin im Besitz der Stadt, aber die Feierlichkeiten darum herum sind bescheidener geworden. Dadurch hat der jährliche Anlass in der 3. Juniwoche viel an Attraktivität eingebüsst. Aber der Ort, an dem die Meteoritenbörse stattfindet, wird etwas Besonderes bleiben, solange der Anlass weiter im Palais de la Régence stattfindet.



Ich (mit Diplom aussen links) habe meine Arbeit zum Meteoriten Ensisheim auch in einem Vortrag verewigt.

Bibliografie:

Theodora von der Mühll, Der Donnerstein von Ensisheim, Birkhäuser Verlag, Basel , 1975
Ursula B. Marvin, The Meteorite of Ensisheim, Harvard University, Cambridge, Massachusets USA, (Meteoritical Society, 1992)
Léa Dejouy & Philippe Thomas, Histoires de Météorites - Volume 1 - Ensisheim, Interface Édition,  Paris 2005
Confèrie Saint-Georges des Gardiens de la Météorite d’Ensisheim et la Societé d’Histoire, L’Histoire d’une Météorite, 2ème Édition, Ensisheim
Hermann Schreiber, Ritter, Tod und Teufel, Kaiser Maximilian I. und seine Zeit, Casimir Katz Verlag,  Gernsbach 2008
Thomas Schauerte, Dürer - Das ferne Genie (Biografie), Reclam Verlag, Stuttgart 2012
Rolf W. Bühler, Meteorite, Weltbild Verlag, Augsburg, 1992
Zur Ergänzung: eigene Recherchen und Wikipedia


 
Copyright 2015. All rights reserved.
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü