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Jakobs Kampf am Jabbok

RELIGION / PHILOSOPHIE > Tiefenpsychologiesche Exegese


Kampf Jakobs am Jabbok (Genesis 32, 22-31)

Die biblische Geschichte

Zuerst werde ich eine Geschichte so nehmen, wie sie in der Bibel geschrieben ist. Ich versuche, mir die beschriebene Situation zu vergegenwärtigen und Unklarheiten inhaltlicher oder sprachlicher Art zu bereinigen.

Noch in der Nacht stand er dann auf, nahm seine beiden Frauen und seine beiden Mägde und seine elf Söhne und ging über die Furt des Jabbok. Er nahm sie und führte sie über den Fluss; auch all seine Habe brachte er hinüber. Jakob aber blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Als der sah, dass er ihn nicht zu überwältigen vermochte, schlug er ihn auf das Hüftgelenk. Und Jakobs Hüftgelenk wurde verrenkt, als er mit ihm rang. Und er sprach. Lass mich los; die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete. Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach zu ihm: Wie heissest du? Er antwortete: Jakob. Da sprach er: Du sollst nicht mehr Jakob heissen, sondern Israel (d. i. Gottesstreiter). Denn du hast mit Gott und mit Menschen gestritten und hast obgesiegt. Und Jakob fragte ihn: Sag an, wie heissest du ? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heisse? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob nannte die Stätte Pniel (d. i. Angesicht Gottes); denn (sagte er) ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht geschaut und bin am Leben geblieben. Und als er an Pniel vorüber war, ging die Sonne auf; er hinkte aber an der Hüfte.

(Genesis 32, 23-31 nach der Zürcher Bibel; Bild oben: Jakobs Kampf mit dem Engel (Eugene Ferdinand Victor Delacroix 1861)

Das Umfeld der biblischen Geschichte

Vielleicht erschliesst sich mir die Geschichte schon auf der erzählerischen Ebene. Wenn nicht, muss ich das Umfeld einbeziehen, die Situation in der die Geschichte spielt und gegebenenfalls die Vorgeschichte. Auch Informationen der historisch-kriti¬schen Exegese können Sachverhalte klären und neue Bezüge schaffen. Ich halte mich aber vorerst mit zu umfangreichen Informationen zurück (nur so viel wie wirklich nötig ist, um die Geschichte zu verstehen) und lasse die Geschichte mit ihrem unmittelbaren Eindruck, den sie hinterlässt, wirken.

Die Jakobserzählung im Alten Testament ist ziemlich umfangreich. Sie beginnt in Genesis 25, 24 mit der Geburt der Zwillingsbrüder Jakob und Esau. Aber obwohl sie Zwillinge sind, könnten die Brüder nicht unterschiedlicher sein. Esau („der Behaarte“) ist der urtümlich Wilde, Starke. Er wird später ein Jäger werden, während Jakob, der Kultivierte zu Hause mit der Mutter den Haushalt und die Herden versorgt. Esau ist der Erstgeborene. Aber schon im Mutterleib versuchte Jakob („der Fersenhalter“) seinem Bruder das Erstgeburtsrecht streitig zu machen. Auch später versucht Jakob mit Hilfe seiner Mutter alles, um das Erstgeburtsrecht an sich zu reissen. Der Höhepunkt dieses dramatischen Wettlaufs ist der Betrug des inzwischen altersschwachen und blinden Vaters. Jakob erschleicht sich durch eine List den Erstgeburtssegen des Vaters, womit die Nachfolge an ihn übergeht. Esau, der den Betrug bemerkt, schwört Rache.

Jakob muss fliehen. Seine Mutter schickt ihn zu ihrem Bruder Laban nach Haran. Dort wird Jakob seinerseits Opfer von Betrug. Statt seiner geliebten Rahel, für deren Heirat er sieben Jahre für Laban gearbeitet hat, findet er nach der Hochzeitsnacht deren ältere Schwester Lea in seinem Bett. Da er mit ihr die „Ehe vollzogen“ hat, ist sie nun seine rechtmässige, wenn auch ungewollte Frau. Für Rahel muss er nochmals sieben Jahre arbeiten. Doch er zahlt es seinem Onkel heim, indem er ihm durch List (und Gottes Hilfe) ein beträchtliches Vermögen in Form von Tieren abringt. Als wohlhabender Mann von zwei Frauen und Vater von elf Kindern kehrt er heim. Bevor er die Grenze zur Heimat überschreitet (den Jabbok) erhält er die Kunde, dass sein Bruder Esau ihn mit 400 Männern erwartet. Mit materiellen Geschenken versucht Jakob, seinen Bruder günstig zu stimmen, aber . . .

Gegenwartsbezüge, Identifikation, Weiterdichten archetypischer Motive

Schon hier kann ich Gegenwartsbezüge machen. Habe ich eine ähnliche Situation schon erlebt? Ich versuche, einen subjektiven Zugang zur Geschichte zu finden. Welche Bilder aus meinem realen Leben steigen bei dieser Geschichte in mir auf? Ich kann diese Assoziationen direkt benennen oder schriftlich fixieren.

Vielleicht kann ich mich auch mit Jakob identifizieren. Ich stelle mir vor, ich sei der einsame Jakob am Jabbok. Wie ist die Stimmung, die in mir aufkommt? Welche Ängste und Hoffnungen durchlebe ich in diesem Moment? Ich kann das (bis jetzt noch unbewusste) „archetypische Motiv weiterspinnen“, indem ich einfach die Geschichte „frei aus dem Bauch heraus“ weiterdichte. Eine Analyse der archetypischen Motive (und damit die Bewusstmachung der archetypischen Motive) erfolgt erst in einem weiteren Schritt. Andere Methoden des Weiterdichtens sind z.B. eine „Traumreise“, ein Rollengespräch oder ein Rollenspiel, ein Bild, eine Pantomime oder (wenn das jemand kann) ein Tanz oder ein kurzes Musikstück . . .

An diesem Punkt offenbart sich oft schon archetypisches Erleben, d.h. das Erleben allgemein menschlicher Grunderfahrungen, ohne dass wir – bis jetzt – eine tiefenpsychologische Analyse gemacht hätten. Aus diesen Grunderfahrungen kann ich meine erkenntnisleitenden Fragen formulieren.

Archetypische Motive

Der Kontext der Geschichte ist für die tiefenpsychologische Bibelarbeit wichtiger als das einzelne Symbol. Aber ich sollte mir trotzdem über den Bedeutungsumfang der einzelnen Symbole im Klaren sein.

Zuerst einmal werde ich in der Geschichte alles herausschreiben, was mir als mögliches Symbol entgegenkommt. Ein mögliches Symbol oder archetypisches Motiv ist alles, was ich mit einer weitergehenden subjektiven oder kollektiven Bedeutung belegen kann. Primäres Kriterium ist wiederum nicht Vollständigkeit, sondern die Frage: „Was spricht mich besonders an?“.

Was mir in der biblischen Geschichte von Jakob am Jabbok entgegenkommt sind: Bruder(-konflikt), Fluss, Kampf, Nacht, Morgengrauen, Verletzung, Segen, Namensgebung und: Was hat es mit dem geheimnisvollen Fremden auf sich?

Die Deutung der archetypischen Motive

Ich kann nun versuchen, den einzelnen Symbolen eine (intuitive) Bedeutung zu geben. Was bedeuten die einzelnen archetypischen Motive (in ihrem Zusammenhang)?

Bruder:
Er ist ein mir verwandtes Wesen, das mir sehr nahe steht. In Teilen gleicht er mir, in anderen Teilen stellt er vielleicht etwas dar, was ich gerne wäre, aber nicht bin. Oft finde ich in meinem Bruder meinen „Schatten“ wieder. Ich kann meinem Bruder      ausweichen (Jakob und Esau), ich kann ihn „umbringen“ (Kain und Abel). Damit treffe ich aber immer auch einen Teil von mir selbst.
Fluss:
Wasser allgemein ist ein Symbol des Lebens, aber auch der tödlichen Bedrohung; der Fluss stellt einen Übergang dar. Der Fluss „fliesst“, ist also auch ein Symbol des Vorwärtskommens. Ein Mensch, der an einen Fluss (ans Wasser) kommt, wird vor eine entscheidende Situation gestellt, die ihn im Leben weiterbringt (vergl. auch Siddharta (Buddha), Mose am Nil und am Schilfmeer oder Jesus am Jordan). Der Fluss als Übergang ist ein Archetyp der Wandlung.
Konflikt:
Der Konflikt, der Kampf ist eine Grundbefindlichkeit des Menschen. Im Konflikt entwickelt und erhält sich das Leben, er ist ein Lernprozess, der nicht ohne Verletzungen abgeht. So kommt Jakob anders aus dem Kampf als er hineingegangen ist (er „hinkt an der Hüfte“).
Morgen:
Wie der Morgen das Erwachen des Tages ist, ist er symbolisch das Erwachen des Bewusstseins.
Nacht:
Die Nacht ist dunkel und war in früheren Zeiten furchterregender Tummelplatz von Geistern und Dämonen. Die Nacht steht auch für (geistige) Dunkelheit, für das Unbewusste.
Segen:
In der Bibel ist der Segen eine gewaltige Kraft, ein Wunsch für gutes Gelingen, der gleichzeitig mit dem Bewusstsein (und dem Anspruch) verbunden ist, dass es gelingt. In diesem Sinn hat der Segen fast magische Wirkkraft für das Gute, so wie der Fluch magische Wirkkraft für das Schlechte hat.
Fremder:
Symbol einer undefinierbaren Bedrohung, einer unbewussten Gefahr, aber auch einer möglichen (geistigen) Bereicherung (im Umgang mit Fremden weite ich meinen Horizont). Hier ist es die personifizierte Macht des Unbewussten in einer kritischen Lebenssituation.

Sollte die Interpretation Schwierigkeiten machen oder stecken bleiben, kann ich mir in einem Symbol-Lexikon vielleicht neue Inspiration holen. Nie aber sollten Symbolinterpretationen unbesehen und eins zu eins aus fremden Quellen für die eigene Arbeit verwendet werden. Wo hinter dem Symbol keine persönliche Erfahrung (Betroffenheit) steht, wo es nicht unmittelbar anspricht, ist es hohl und damit bedeutungslos.

Die zentrale Gestalt

In der Frage nach der/den zentralen Gestalt(en) bzw. dem/den zentralen Motiv(en) kündet sich die Frage an, wo wir in unserem Leben die Prioritäten setzen, was uns wichtig ist, woran wir „unser Herz hängen“. Oft kann ein Wechsel der Perspektive angezeigt sein (Paradigmenwechsel), der ein Problem in einem ganz anderen (ganzheitlicheren) Licht erscheinen lässt:

Identifiziere ich mich eher mit Jakob oder mit Esau? Oder wird gar der Jabbok zum zentralen Motiv für mein Leben? Wenn ich mich mit Jakob identifiziere: Wie würde wohl Esau dieselbe Geschichte erzählen? Was hat wohl Esau erlebt, während sein Bruder in der Fremde war?

Die Amplifikation des Materials

In einem weiteren Schritt kann ich (nach Kapitel 4.3.3.2.) versuchen, das Material zu amplifizieren, d.h. mich zu fragen: Wo habe ich schon ähnliche Motive getroffen? In welchem Zusammenhang standen sie dort?

Zum Beispiel finden wir den Bruderkonflikt schon bei Kain und Abel (Genesis 4). Das Durchschreiten des Flusses (bzw. des Meeres) ist ein Motiv bei Mose (Exodus 13, 17ff), Josua (Josua 3), Jesus (Matthäus 3, 13ff) . . .
Auch das Motiv der Namensgebung ist in der Bibel weit verbreitet. Zum Beispiel nennt Gott den Menschen „Adam“ (vom hebr. adamà = „Ackererde“), weil  . . . (Genesis 3, 19b) und Eva (vom hebr. chawa = „Leben“ erhält ihren Namen, weil sie „Mutter alles Lebenden“ ist (Genesis 3, 20); Abram bekommt einen neuen Namen, „Abraham“, nachdem er einen Bund mit Gott geschlossen hat (Genesis 17, 5) . . . Ebenso verbreitet ist das Motiv des Segens. Entsprechende Stellen können z.B. mit einer Bibelkonkordanz (Verzeichnis der in der Bibel vorkommenden Stichwörter unter Angabe der entsprechenden Bibelstellen) gefunden werden.

Die Deutung auf der Objekt- und Subjektstufe

Auf der Objektstufe
Es geht um einen Mann, der nach vielen Jahren nach Hause kommt. Sein Hab und Gut ist ein Zeichen, dass er es zu materiellem Wohlstand gebracht hat. Am Fluss, der die Grenze zu seiner Heimat bildet, erinnert er sich an den Konflikt, den er bei seinem Wegzug mit dem Bruder hatte. Er hatte seinen Bruder hintergangen und betrogen und fürchtet nun – wohl zu recht – späte Rache. Was er von seinen Kundschaftern hört, ist nicht angetan, ihn zu beruhigen. Der Bruder erwartet ihn mit 400 (wahrscheinlich bewaffneten) Männern. Der mysteriöse Mann, der in der Nacht mit ihm kämpft, erinnert an einen Geist in einer Sage. Am Morgen ist Jakob verletzt, aber er hat auch einen neuen Namen erhalten.

Auf der Subjektstufe
Auf der Subjektstufe ist jede in der Geschichte vorkommende Person, jeder Ort, jedes Ding ein psychischer Teilaspekt der Gesamtpsyche des Subjektes, in unserem Fall Jakobs. Die Rückkehr in seine Heimat steht symbolisch für seine Rückkehr zu seinem (noch unerlösten) Selbst. Die Aspekte, vor denen er in einem früheren Leben geflohen ist, holen ihn nun wieder ein und fordern ihre Integration. Der Fluss stellt die Lebensschwelle dar, die eine Entscheidung von ihm fordert. Das bedeutet Kampf, ein Kampf Jakobs mit seinem Schatten, mit der unerlösten Seite seiner Anima . . . Im Bewusstseinsdunkel der Nacht beginnt der Kampf, der nicht ohne Verletzung geht. Im Morgengrauen eines neuen Bewusstseins endet der Kampf. Hinkend geht Jakob vom Kampfplatz, nicht der vorwärts stürmende Jüngling ist gefragt, der alles überrennt, sondern der Hinkende, der gezwungen ist langsam zu gehen und deshalb viel Zeit hat mitzubekommen, was um ihn herum läuft. Und was hat Jakob in jener Nacht gewonnen? Er hat einen Segen gewonnen, nicht einen erschlichenen, sondern einen erkämpften und er hat einen neuen Namen gewonnen: „Israel“ (Streiter Gottes), weil er „mit Gott gerungen hat“. Tiefenpsychologisch heisst das, er hat mit seinem Selbst gerungen und ist Sieger geblieben. Als ganzheitlicher Mensch ist Jakob nun auch in der Lage, seinem Bruder in einer Art gegenüberzutreten, die es jenem erlaubt, ihm zu verzeihen. Denn nun ist Esau, der Schatten, nicht mehr der Feind, sondern ein integrierter Teil Jakobs selbst.

Die Subjektstufe hat eine subjektive und eine kollektive Ebene. Auf der kollektiven Ebene steht Jakob – wie ja auch sein „Übername“ zeigt - für das ganze Volk Israel. Auch in der Kollektivseele Israels geht es um einen Kampf mit der dunklen Gestalt Gottes, mit dem Schatten, der sich wohl u.a. in den verschiedenen Ethnien manifestiert, aus denen sich das Volk der Bibel zusammensetzt.

Der Weg der Individuation

In der Jakobserzählung können wir - über den Kampf am Jabbok hinaus betrachtet -  einen Entwicklungsweg, einen Weg der Individuation, nachzeichnen: Der Kampf Jakobs mit seinem Schatten (Esau) beginnt schon sehr früh, im Mutterleib. In diesem frühen Teil der Erzählung haben Jakob und Esau nur sehr wenige Berührungspunkte. Einer ist, wo Esau von seinem Bruder ein Linsengericht fordert und Jakob im Gegenzug das Erstgeburtsrecht verlangt (Genesis 25, 29ff). Jakob hat kein anderes Ziel, als den väterlichen Segen, der ihm nach dem Erstgeburtsrecht aber nicht zusteht. In dieser gespannten Situation tritt seine Mutter auf, die ihn in der Art der unerlösten Anima zum Betrug und zur List anstiftet. Die List gelingt, aber der Segen kann sich in einem unerlösten Individuum nicht segensreich auswirken. Jakob muss fliehen. Er flieht zu Laban, seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter.

Bei Laban steht er immer noch im Bannkreis der unerlösten Anima und der (gegenseitige) Betrug geht weiter. In der Liebe zu Rahel lernt er eine Projektion seiner erlösten Anima kennen, die aber lange Zeit unfruchtbar (Rahel kann keine Kinder gebären) bleibt. Diese Projektion kann nur ein vorübergehender Zustand sein. Nachdem Jakob am Jabbok sein Selbst gefunden hat, stirbt Rahel. Jakob ist fähig, die erlöste Anima fortan selber zu leben, was in der verzeihenden und integrierenden Geste des Bruders zum Ausdruck kommt.

Dass Jakob später in der Josephsgeschichte wieder in ein polarisierendes Schema verfällt, indem er die Söhne Rahels (Joseph und Benjamin) den Söhnen Leas (unter denen sich der Erstgeborene – Ruben – befindet) vorzieht, bricht die Kontinuität seiner Individuation. Das kann vor diesem Hintergrund nur so gedeutet werden, dass die Jakobsgeschichte aus verschiedenen unabhängigen Erzählsträngen besteht.

Ich kann sowohl die Interpretation auf der Subjektstufe wie den Individuationsweg auf meine persönliche Lebenssituation beziehen. Wo meine Selbstfindung ins Spiel kommt, kann ich dem in der Interpretation gesagten eine daseins¬analytische Betrachtung anreihen. Damit schaffe ich meinen subjektiven Bezug zum Motiv: Wie ist z.B. mein Lebensweg bis hierher verlaufen? Welche Erfahrungen habe ich mit „Übergängen, Flucht, Kampf und Verletzung, Segen . . .“ gemacht? Was haben diese Situationen bei mir bewirkt? Wo war ich gezwungen, gegen meine momentane Überzeugung zu handeln (über meinen „Schatten“ zu springen), und welche Erfahrungen habe ich dabei gemacht? Wo haben sich mir neue Wege eröffnet, und was ist dieser Erfahrung vorausgegangen? . . .

Solche Gespräche sind ein sehr delikates Geschehen, das mit sehr viel Sensibilität angegangen werden muss. Es kann nicht darum gehen, Leute „auszustellen“ und schon gar nicht „blosszustellen“. Schmerzliche Erinnerungen an „misslungene“ Lebenswege können hochkommen usw. . Neben der Sensibilität der Leiterin/des Leiters und dem gegenseitigen Respekt der Teilnehmenden kommt hier ganz klar die Chairman/ Chairwomen-Regel zum Tragen (Kap. 5 2 3 4).

Auswertung und Realisierung

Wenn wir in unserer Interpretation schon so weit gediehen sind, können wir die Vollständigkeitsregel anwenden, die insofern von Bedeutung ist, als jetzt die Stimmigkeit der bisherigen Interpretation überprüft wird. Bis zu einem gewissen Grad ist das eine „Evaluation“ des bisher Erarbeiteten.

Gerade in einer Gruppe wird die Vielfältigkeit der möglichen Interpretationen, vielleicht auch die Ambivalenz der Symbole sichtbar. Vielleicht vermag eine Interpretation in unserem spezifischen Fall nicht zu befriedigen. Vielleicht stimmt das Bild mit der Erfahrungswirklichkeit nicht oder nicht vollständig überein. Ziel kann nicht die Harmonisierung der verschiedenen Ansichten sein! Es ist wichtig, die Symbole und ihre vielfältigen Bedeutungen und Interpretationsmöglichkeiten in ihrer Polyvalenz zu belassen.

Am Schluss steht die Realisierungsregel. Welche konkreten Einsichten haben die ge-machten Betrachtungen für mein Leben gebracht? Wie kann ich sie gegebenenfalls in meinem Alltag umsetzen? Hier gilt ebenfalls, was ich im vorangegangenen Kapitel im Abschnitt über Selbstfindung und daseinsanalytische Betrachtung gesagt habe: Jede/jeder ist ihre eigene Chairwomen/sein eigener Chairman.



 
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