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Die alte Kartause
La Grande Chartreuse – GrenobleWas sich nun in La Chartreuse abspielte, hat sein Gegenstück in der Flucht der Jünger nach der Gefangennahme Jesu im Garten Getsemaneh. Die zurückgebliebenen Brüder erfasste eine solche Trostlosigkeit, dass sie die Einsiedelei verliessen und sich in alle Welt zerstreuten. Der eine und andere kam bis nach Rom, um vor Bruno seine Schwäche einzugestehen. Bruno versuchte, seinen Schmerz zu verbergen und sprach ihnen erneut Mut zu, das begonnene Werk nicht fallen zu lassen. Gerne hätte er sie in die Daupinéer Berge zurückbegleitet, aber Papst Urban befand sich in arger Bedrängnis, Heinrich IV, der auf der Seite des Gegenpapstes kämpfte, zwang ihn zur Flucht nach Kalabrien, ins Land der Normannen, und Urban konnte und wollte auf den Rat seines Lehrers nicht verzichten.
In Kalabrien bot der Papst Bruno die Bischofswürde des Bistums Reggio an, um ihn mit seinem Schicksal zu versöhnen. Aber der alte Mönch hatte nur Sehnsucht nach der Einsamkeit. So erlaubte ihm Urban II schliesslich, in den Bergen von Kalabrien eine Einsiedelei einzurichten. Der Normannenfürst Roger, der Bruno bei La Torre kennengelernt hatte und ihn nun als Freund und Gönner verehrte, war massgebend an der Gründung der ersten Kartause ausserhalb Frankreichs beteiligt. So hatte der Orden schon vor seiner eigentlichen Gründung die nationalen Fesseln gesprengt. Aber das milde Klima Kalabriens vermochte den Geist Brunos nicht zu befriedigen. Der nun Siebzigjährige ertrug sein Los in stiller Demut. Am 6. Oktober 1101 verstarb er so still und friedlich, wie er gelebt hatte.
Es war damals üblich, Tote in einem Nachruf zu ehren. Noch heute sind 78 Nachrufe auf Bruno erhalten und zeugen von seiner Beliebtheit, die er genoss und der Achtung, die man ihm entgegenbrachte. 400 Jahre später wurde er von Papst Leo X (1513 - 1521) heilig gesprochen. Bruno war sich des Vermächtnisses kaum bewusst, das er der Nachwelt hinterlassen hatte. Er hatte seine Zeitströmung erfasst und den Grundstein zu einem Orden gelegt, der noch weite Verbreitung finden sollte.
Der Kartäuserorden
Um die ursprüngliche Klause von La Chartreuse entstanden bald nach dem Tode Brunos neue Einsiedeleien. Die Gemeinschaft wuchs bald auf über hundert Brüder an. Durch geistige Exerzizien und mündliche Überlieferung wurde das Erbe Brunos weitergegeben. Aber je grösser die Gemeinschaft wurde, desto lauter wurde der Ruf nach festen Regeln.
Der vierte Nachfolger Brunos und fünfte Prior von La Chartreuse, der erst 27jährige Guigo de Chastro (+ 1137), übernahm 1106 das Amt und die verantwortungsvolle Aufgabe, die Ordensregeln niederzuschreiben. In tiefer Demut und mit grosser Gewissenhaftigkeit ging er ans Werk und studierte vorher nochmals eingehend die Kirchenväter Hieronimus und Cassian.
Am 30. Januar 1132 ging eine Lawine auf die Einsiedelei nieder und zwang die Männer, eine neue Einsiedelei zwei Kilometer weiter unten, an geschützterer Stelle zu bauen. Das war der Ort, wo die Mutterkartause heute noch steht. Die Arbeiten gingen zügig voran. Nur die Kirche wurde in Stein gebaut, das gute Dutzend Mönchszellen bestand aus Holz. Am 13. Oktober 1133 konnte die Kirche geweiht werden. Im gleichen Jahr bestätigte Papst Innozenz II die Ordensregeln. Guigo nannte sie bescheiden "Consuetudines" (11). Diese bilden noch heute die Grundlage der kartäusischen Statuten. Die Verbindung des Vermächtnisses Brunos mit benediktinischen Regeln und monastischer Weisheit war originell. Die Consuetudines waren in drei Teile - Liturgie, Leitung der Mönche und Leitung der Laienbrüder - gegliedert und umfassten 80 Kapitel.
Unter dem siebten Prior von La Chartreuse, Anthelm (1139 - 1151), wurde 1140 das erste Generalkapitel einberufen. Mit der Gutheissung der Regeln durch die sechs Vertreter der bis dahin neun Kartausen konnte man nun endlich von einem eigentlichen Orden sprechen. 1155 folgte ein zweites Kapitel, das fortan zu einer ständigen Einrichtung wurde. Das Generalkapitel sorgte - neben den regelmässigen Visitationen - für die Bewahrung von Einheit und Strenge im Orden. So bestätigten 1177 Papst Alexander III und 1255 Papst Alexander IV die Autorität des Kapitels. Durch all die Wirren der Zeit vermochten die Kartäuser bis in die heutige Zeit durch ihre kompromisslose Strenge und hingebungsvolle Ordenstreue die mittelalterliche Grundstruktur des Ordens zu erhalten: "Cartusia numquam reformada quia numquam deformada." (12)
Den Consuetudines folgten drei weitere Statuten des Generalkapitels: die "Statuta antiqua" (13), die "Statuta nuova" (14) und schliesslich die "Tertia compilatio statutorum". 1510 wurde die ganze Sammlung "Consuetudines et Statuta" erstmals gedruckt. Nach einer anfangs eher zögerlichen Ausbreitung des Kartäuserordens stieg die Zahl der Klostergründungen im 14. und 15. Jahrhundert sprunghaft an.
1145 schlossen sich die Schwestern eines Klosters in der Provence, die bis anhin nach den Regeln des Hl. Caesarius von Arles gelebt hatten, den Kartäusern an. Wie die Frauen keinen Zutritt zu den Männer-Kartausen haben, so haben Männer keinen Zutritt zu Kartäuserinnen-Klöstern. Die innere Klausur ist bei den Frauen weniger streng. Sie arbeiten und essen gemeinsam. Auch das Chorgebet dauert nicht so lange wie bei den Mönchen. Ansonsten sind sie aber den Männern ebenbürtig und dürfen in der Messe die Evangelien und Episteln lesen.
Bis 1200 gab es 37 Kartausen, zwei davon Nonnenklöster. Vorläufig waren sie noch auf Frankreich konzentriert. Die ersten deutschen Kartausen entstanden in der heutigen Steiermark, 1160 Seitz und 1169 Geirach. Die Blütezeit des Kartäuserordens ging einher mit dem Aufblühen der Mystik im 14. und 15. Jahrhundert. Um 1510 zählte man bereits 195 Kartausen, ihre Zahl soll aber noch auf etwa 230 angestiegen sein.
1294 entstand La Valsainte bei Bulle/Fribourg als erste Kartause auf Schweizer Boden. Sie ist auch die einzige in der Schweiz, die heute noch von Kartäusern bewohnt ist. Ihr folgten 1306 La Part Dieu, 1317 La Lance, 1397 Bern, 1401 Basel und 1461 Ittingen. Die Strenge und die stille Zurückgezogenheit verschafften den Kartäusern grosses Ansehen. Es fanden sich viele Stifter und Gönner, die sich in einer Schenkung bei den Kartäusern ein Stück Seelenheil zu ergattern suchten. So erstarkten die Kartäuser, während ringsumher andere Orden sich wieder auflösten.
Das 15. Jahrhundert war allerdings auch für die Kartäuser eine düstere Zeit. Die Reformation, die Religionskriege und die Verfolgung durch die Hussiten liessen auch bei Kartäusern viele Klöster untergehen. Viele Mönche starben den Märtyrertod. Das 16. Jahrhundert sah den Niedergang weiterer 40 Kartausen, dann begannen sich die Mönche aber mehr und mehr in der Gegenreformation zu engagieren. In eiligst eingerichteten Druckereien wurden pro-katholische Schriften verfasst und auf Vermittlung der Kartäuser wurde die erste Jesuitenniederlassung in Deutschland gegründet. Die kartäusische Geisteshaltung war einer der Grundpfeiler der inneren und äusseren Reform der Katholischen Kirche. Ignatius von Loyola, der Gründer der "Societas Jesu" (15) und die wichtigste Gestalt der Gegenreformation, stand tief in der Tradition kartäusischer Frömmigkeit.
Im 17. Jahrhundert erlebten die Kartäuser mit 12 Neugründungen einen neuen Aufschwung. Im 18. Jahrhundert aber zog der Jansenismus (16) in einige Kartäuserklöster Frankreichs ein und nagte an deren Substanz. Im habsburgischen Gebiet brachte der aufgeklärte Absolutismus von Kaiser Joseph II (17) 24 Kartausen den Niedergang. Die Französische Revolution brachte zwischen 1789 - 1792 weiteren 67 Kartausen den Untergang. Die meisten anderen Kartausen fielen den Napoleonischen Kriegen oder - als Nachwirkung der napoleonischen Klostergesetze - der nachfolgenden Säkularisierung zum Opfer.
1816 wurde aber die Grande Chartreuse bei Grenoble, die vorübergehend das Schicksal der anderen 10 Klöster in Frankreich, 9 in Italien und La Valsainte in der Schweiz zurückzuerwerben. Weiter folgten drei Neugründungen, je eine in Deutschland, England und Jugoslawien. Das Französische Ordensgesetz von 1901 brachte die erneute Schliessung der französischen Kartausen. Erst 1940 konnte die Grande Chartreuse neu bezogen werden. Heute zählt der Orden noch etwa 660 Mitglieder, 300 Patres, 225 Brüder und 135 Schwestern. Es gibt wieder 24 Kartausen: 7 in Frankreich, 6 in Spanien, 5 in Italien, je eine in Deutschland (Marienau), England, Jugoslawien, Portugal, in der Schweiz (La Valsainte) und den USA ..., zwei davon sind Nonnenklöster.
Fussnoten:
11 "Gebräuche"
12 "Die Kartause wurde nie reformiert, weil sie nie deformiert wurde."
13 bis 1259
14 1259 - 1367
15 Orden der Jesuiten
16 Nach dem niederländ. Theologen Cornelius Jansen, der eine romfeindliche, auf Augustinus zurückgehende Theologie vertrat.
17 auch Zeit des "Josephinismus" genannt