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Verstockung in der Bibel

RELIGION / PHILOSOPHIE > Arbeiten zu theologischen Themen


DIE "VERSTOCKUNG" IN DER BIBEL       

Gedanken zu einem zentralen biblischen Begriff

Werner Keller, 1993                


Bild: Paolo Veronese (Cagliari) - Jesus unter den Schriftgelehrten, 1566. Zu Jesaja 6, 9-11

EINLEITUNG

An verschiedenen Stellen ist in der Bibel von "Verstockung" als ein sich Verschliessen ge­genüber der göttlichen Botschaft die Rede. Wahrscheinlich gebraucht schon der Jahwist diesen Begriff, sicher aber der Elohist. Diese "Verstockung" entspringt wohl der situations­gebundenen Erfahrung des Gläubigen mit dem "Ungläubigen", dem Zweifler. Das ist mehr oder weniger jedem einsehbar, der diese "emotionale Verweigerung" - in einem Anflug von Selbst­erkenntnis - mindestens zeitweise schon bei sich selber beobachtet hat. Tragisch ist, dass diese Verweigerung sehr oft gegenüber Personen auftritt, die eigentlich das vollste Ver­trauen verdienen würden und nur das beste wollen. Für die nomadisierenden Israeliten ist Gott ein "allmächtiger Vater", der mit ihnen zieht und ihre Geschicke zu ihrem Guten be­stim­mt. Seinen Willen tut er durch die Propheten kund, aber das Volk will nicht hören. Da­bei übertragen die Väter ihre Erfahrung des Ungehorsams der eigenen Kinder auf die Situation des Ungehorsams des Volkes Israel gegenüber seinem Gott.

Wenn aber im Buch Jesaja dem Propheten Gottes ein "Verstockungsauftrag" gegeben wird, sträubt sich doch der Verstand eines aufgeklärten Menschen des 20. Jahrhunderts und verlangt nach Erklärung:

" ... sprich zu diesem Volk: Höret immerfort, doch verstehet nicht, und sehet immerfort, doch erkennet nicht! Verstocke das Herz dieses Volkes, mache taub seine Ohren und blind seine Augen, dass es mit seinen Augen nicht sehe und mit seinen Ohren nicht höre, dass nicht sein Herz einsichtig werde und man es wieder heile." (Jes 6, 9.10)

DIE VERSTOCKUNG IM ALTEN TESTAMENT

In älteren Erzählungen sind es zunächst einmal Fremde, die verstockt werden, so z.B. der Pharao gegenüber der Botschaft, die ihm Gott durch Mose zukommen lässt (Ex 3 - 14). Die Erzählung gipfelt im Untergang des ägyptischen Heeres. Schon bald aber tritt die Ver­stockung auch beim auserwählten Gottesvolk auf und zieht sich als Leitmotiv durch die ganze Exoduserzählung.

Das Wort für "verstockt", das der Jahwist bevorzugt, ist "kabet", das "schwer" oder "schwer­fällig" bedeutet, aber nicht nur "schwer an Gewicht", sondern auch "schwer in Bezug auf die Tragbarkeit einer Aufgabe". Es kann eine "Schwere" sein, die "Gewicht" verleiht, aber auch eine "Qual". "Kabet" hat also eine positive und eine negative Bedeutung. Dass das Verb hauptsächlich im Hifil (kausativ) gebraucht wird, sagt, dass jemand dies bewirkt, dass Jahwe der Veranlasser für diese "Schwere" ist.

Im Gegensatz zu der Mehrzahl der Verstockten in Israel stehen die 7'000 Auserwählten der Eliageschichte (1 Kön 19, 18). Sie sind die Garanten für den Fortbestand des Bundes Gottes mit seinem Volk, denn Gott misst Israel nicht an der verstockten Mehrheit, sondern macht ihm in den 7'000 ein vorbehaltloses Gnadengeschenk, das stellvertretend für das ganze Volk gilt. Diese 7'000 sind nicht gerechtfertigt durch ihre Taten, sondern alleine durch die Gnade Gottes. Wie Gott verstocken kann, so kann er erwählen! In der Frage nach der Zugehörigkeit zu den Erwählten klingt die Frage nach der "Prädestination" an.

7'000 kann als Symbolzahl betrachtet werden. 7 ist die Zahl der Erfüllung, der Vollendung und der Ganzheit. Der Multiplikator 1'000 setzt sich zusammen aus der Totalitätszahl und Zahl der Geschichtsepochen 10 multipliziert mit der Zahl 100 als Zahl der abgeschlosse­nen Vielheit in einem höheren Ganzen und als vollkommene Alterszahl. Die 7'000 Auser­wählten können also - unabhängig von ihrer wahren Zahl - gedeutet werden als die Ge­samtzahl derer, die die Worte Gottes bis zum Ende der geschichtlichen Epochen und der Vollendung der eschatologischen Verheissung des Reiches Gottes gehört und verstanden haben. Diese Zahl wird immer noch die Minderheit aller Menschen sein, aber diese Minder­heit wird die Schöpfung vor Gott rechtfertigen.

Eine dramatische Verstärkung erfährt die Verstockung bei Jesaja (Bild links: Raphael: Fresko von 1511/12, in der Kirche des Sant' Agostino in Rom) durch den "Auftrag zur Verstoc­kung". Der Wille Gottes, das Volk vollends zu verstocken, darf aber nicht gleich­gesetzt werden mit seinem Willen, es fallen zu lassen. Das zeigt schon die "Gnaden­wahl der 7'000". Auch über die Verstockung hinweg hält Gott seinen Dialog mit dem auser­wähl­ten Volk aufrecht. Die Verstockung ist ein innerzeitliches, nicht ein endzeitliches Geschehe! Der Verstockungsauftrag hebt die Diskrepanz zwischen den Erwählten und den Verstock­ten hervor. Er richtet den Blick auf die Endzeit. Die Verstockung des Volkes er­schwert zwar dessen Umgang mit Gott, bringt es dem Gericht näher, aber das letzte Wort über den Aus­gang des Gerichts ist noch nicht gesprochen.

DIE VERSTOCKUNG IM NEUEN TESTAMENT

Im Markus-Evangelium steht die "Verstockung" (aus Jesaja übernommen) für die Tatsache, dass sich die Leute - ja sogar die berufenen Jünger - der Botschaft Jesu verschliessen. Sie können oder wollen nicht begreifen, was in diesem Jesus vorgeht.

Bei Paulus kommt die heilsgeschichtliche Botschaft in Bezug auf die Heidenchristen zum tragen. Israel  musste (!) zeitweise verstockt werden, damit die Heiden Gelegenheit beka­men, sich dem "Volk Gottes" anzuschliessen. Er entfaltet diesen Gedanken im Römerbrief (Röm 9 - 11). In Römer 11 hält Paulus ganz deutlich fest, dass Gott nicht - wie das wohl viele Christen gerne verstanden hätten - in der Heilsbotschaft Christi von den Juden ab- und den Christen zugewendet hat. Paulus sieht sich selber als einen der 7000 Auser­wähl­ten. Seine Existenz als Jude und Heidenmissionar sieht er als Beweis, dass Gott das Volk Israel nicht verstossen hat.

Durch Golgota sind Juden und Heiden (-christen) zu "Komplizen" geworden, sie sitzen heilsgeschichtlich gesehen "im gleichen Boot". Ja, indem die Juden den von ihnen abge­lehnten Messias den Heiden zur Kreuzigung ausgeliefert haben, sind sie mit den Heiden zu Instrumenten des im Tode Christi vollzogenen universalen göttlichen Versöhnungswer­kes geworden. Die Schuld am Kreuzestod Christi ist der höchste Grad der Verstockung. Aber gerade dadurch, dass die Juden den Heiden den Messias ans Kreuz geliefert haben, bekommen Juden und spätere Christen in der Heilsgeschichte Gottes etwas miteinander zu tun, werden auch die Heiden in das Heilsgeschehen eingebunden (Mark 15, 39). Chri­sto­logisch und eschatologisch gesehen ist die  K i r c h e  ganz Israel, die 7'000 Erwählten und die verstockten,  u n d   die ganze Heidenwelt.

Es mutet wie ein Paradoxon an, aber der von den Juden nicht ausgelieferte Jesus wäre nicht der Heiland der Heiden geworden und der von den Juden nicht abgewiesene Paulus nicht der Völkerapostel. Die Verstockung kann also heilsgeschichtlich durchaus fruchtbar werden! Sie ist der Abglanz der göttlichen Liebestat, die den eingeborenen Sohn nicht ver­schont. Ihr Ziel ist nicht die Verwerfung, sondern das universelle Erbarmen.

DIE VERSTOCKUNG PSYCHOLOGISCH GEDEUTET

Der Prophet befindet sich in einer ungeheuren psychischen Spannung. Er muss eine Botschaft, die für ihn eminent wichtig ist, die seiner innersten Überzeugung entspringt (= Auftrag Gottes!), einem Volk mitteilen, das diese Botschaft in der Regel nicht hören will. Die "Verstockung" entspricht ja dem menschlichen Verharrungsvermögen in alten Struk­turen und Verhaltensweisen, die als subjektiv angenehm und nützlich angesehen werden. Die Verstockung entspricht der eigenen Bequemlichkeit, der narzistischen Selbstgefällig­keit und der opportunistischen Selbstzufriedenheit. Sie entspricht dem Nicht-zuhören-wollen in Bezug auf eine notwendige Veränderung oder einen notwendigen Wandel. Genau das prangert der Prophet beim Volk an!

Da die Botschaft des Propheten in den Kern eines schwelenden Problems vordringt, einen "Schatten" aufdeckt, wie C. G. Jung sagen würde, ist klar, dass die Menschen erst einmal mit Ablehnung reagieren. Wir können sogar sagen, dass die Heftigkeit der Ablehnung, der "Grad der Verstockung", direkt ein Indikator für die Brisanz der vermittelten Botschaft ist.

So bedeutet der "Verstockungsauftrag" für den Propheten eine Aufforderung, die Botschaft Gottes unerschrocken und in schonungsloser Klarheit unter das Volk zu bringen. Er macht klar, dass die Verstockung des Volkes nicht die Schuld des Propheten - seiner mangelnden Überzeugungskraft - ist, sondern von Gott gewollt und damit unausweichlich ist. Psycho­lo­gisch heisst das, dass die Verstockung des Volkes zur Botschaft gehört, sofern sie wirklich zum Kern einer Sache vordringt. Der Kern der Sache ist das, was das Volk  lieber nicht wahr­haben möchte, was der Prophet aber unerbittlich aufdeckt. Die Tatsache der Ver­stockung kennzeichnet die Botschaft des echten Propheten gegenüber der des falschen Propheten, des "Volksverführers", der dem Volk schöne, aber inhaltlose Reden präsentiert, bei denen keine Veranlassung besteht, sich dagegen zu verstocken.

In der Radikalität der echten prophetischen Botschaft, die das Innerste des Menschen trifft, ist kein Kompromiss möglich. Die erste Reaktion auf eine solche Botschaft muss (!) zwangs­­läufig Verstockung sein. Diese Verstockung staut das Problem so weit zurück, dass es früher oder später mächtig hervorbricht, das aber mit einer erhöhten Wahrscheinlich­keit auf Einsicht und einen "durchschlagenden" Lösungserfolg. Biblisch gesprochen ist weder die Einsicht noch die Lösung des Problems eine Leistung des Menschen, sondern ein Gnadenakt Gottes, den er bewirken, aber auch unterlassen kann. In diesem Sinn kann auch der Schluss von Jesaja 6, 10 verstanden werden.

Quellen:
Jenni/Westermann, "Theologisches Handwörterbuch zum AT", Theologischer Verlag, Zürich 1984
"Religion in Geschichte & Gegenwart IV", Mohr Verlag, Tübingen 1962
"Herders Lexikon der Symbole", Herder Verlag, Freiburg 1982/5
Karl Barth, "Dogmatik II/2", Evangelischer Verlag, Zürich 1959
Heinrich Mertens, "Handbuch der Bibelkunde", Patmos Verlag, Düsseldorf 1984/2



 
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